print logo

Gerade noch mal schief gegangen - es lohnt sich über Fehler zu reden

Menschen die Angst vor Fehlern zu nehmen ist eine rhetorische Herausforderung. Die meisten vertuschen ihre Irrtümer und Missgeschicke lieber.
René Borbonus | 26.03.2015
Eine dieser Runden: Alle Mitarbeiter der Abteilung sind um den Konferenztisch versammelt. Der Chef sah schon mal glücklicher aus. Gerade hat er allen Anwesenden erläutert, in welche Schwierigkeiten er geraten ist, weil die Vertriebsstrategie für das Großprojekt, das den Quartalsumsatz retten soll, nicht rechtzeitig fertig war. Schön blöd habe er dagestanden vor dem Kunden.
Alle ahnen, was jetzt kommt, und richten ihre Aufmerksamkeit vorsorglich schon mal auf die Poster mit den Claims aus der Firmenbroschüre: "Bei uns zählt der Mensch", steht da, und: "Kommunikation ist Trumpf". Dann stellt der Chef die Frage, die alle haben kommen sehen: "Wer hat das verbockt?" Die Antwort ist ein vielstimmiges Schweigen.
Das Meeting zieht sich noch eine Weile. Letztlich lässt sich nur feststellen, dass es an einer verlässlichen Zahl gefehlt hat: Die Absatzerwartung lässt sich erst abschätzen, wenn eine Erhebung in der Zielgruppe belastbare Ergebnisse geliefert hat. Als der ursprüngliche Zeitplan gemacht wurde, wurde das Zeitfenster für die Befragung zu kurz angesetzt. Das fiel erst auf, als ein Mitarbeiter des damit beauftragten Marktforschungsinstituts sich widersetzte: "Wenn Sie verlässliche Ergebnisse wollen, brauchen wir mehr Zeit."
Zwei Wochen später ist die Befragung ausgewertet. Beim Blick in die Zahlen stellt sich heraus, dass die Nachfrage die Erwartungen bei weitem übertrifft. Die bisher kalkulierten Kapazitäten wären nicht annähernd ausreichend gewesen, ein Engpass die zwingende Folge. Wäre die bisher umrissene Vertriebsstrategie zwei Wochen zuvor verabschiedet und in Gang gesetzt worden, hätte das zu erheblichen Problemen geführt; jetzt jubiliert der Kunde angesichts der bevorstehenden Umsatzsteigerung, und der Chef hat auf einmal sehr gute Laune.
Nach dem "Fehler", der zur Verzögerung im Gesamtablauf geführt hatte, fragt plötzlich niemand mehr. Dabei wäre es genau jetzt an der Zeit, darüber zu sprechen, denn: Dieser Fehler hat sich als Glücksfall erwiesen. Er sollte dringend wiederholt und in zukünftige Prozesse integriert werden. Gerade nochmal schiefgegangen.

Mit Fehlern kann man arbeiten
Wie ehrlich sind Sie, wenn es darum geht, Fehler einzuräumen?
Fehler sind eines der letzten Tabus der Leistungsgesellschaft. Jedem passieren sie, die wenigsten stehen dazu. Auf die Idee, sie zum Arbeitsthema und zur Grundlage einer gesunden Feedbackkultur zu machen, kommen noch immer wenige Unternehmen. Wir können im Büro inzwischen über fast alles reden: über Work-Life-Balance, über Sinn und Unsinn einer Frauenquote, über die Grenzen der permanenten Erreichbarkeit. Über Fehler nicht. Jeder Fehler, glauben wir, könnte die Karriere killen. Fehler machen angreifbar – sie einzuräumen schwächt die eigene Position.
Wegen diesen Glaubenssätzen sitzt bei vielen die Angewohnheit tief, Fehler zu verbergen anstatt damit zu arbeiten. Dass es schwer wäre, darüber zu reden, ist letztlich auch so ein Glaubenssatz, denn das ist ganz allein eine Frage der Kommunikationskultur. Unverzeihlich ist in Wahrheit nur ein einziger Fehler: Aus Fehlern nichts zu machen. Denn sie können etwas wunderbares sein – allerdings nur, wenn darüber gesprochen wird.
Es ist Zeit, mit dem Mythos vom Karrierekiller "Fehler" aufzuräumen. Ohne ein paar saftige Missgeschicke, Irrtümer und blöde Zufälle hätte es einige der wichtigsten Erfindungen der Neuzeit schlicht nicht gegeben. Und einige der bedeutendsten Köpfe der Wissenschaft wären nie berühmt geworden, wenn sie nicht auch mal Mist gebaut hätten.

Fehler, die Geschichte machten
Das Penicillin ist eine der wichtigsten Erfindungen, die einem Mediziner jemals gelungen sind. Das Medikament, das als Ursprung aller modernen Antibiotika gelten kann, hat Millionen von Menschen das Leben gerettet. Entdeckt wurde es infolge eines Missgeschicks seines Erfinders, des Bakteriologen und späteren Nobelpreisträgers Alexander Fleming. Der hatte im Sommer 1928 nämlich mal die Nase voll von der Forscherei, machte sein Labor dicht und fuhr in den Urlaub.
So ganz stimmt das nicht: Fleming hatte sein Labor zwar abgeschlossen, aber eben nicht dicht gemacht. Er hatte vergessen das Fenster zu schließen.
Als er zurückkehrte, fiel ihm neben der ungewohnt frischen Luft an seinem Arbeitsplatz auch eine seltsame Veränderung auf den Versuchsplatten auf, auf die er vor seinem Urlaub Eitererreger aufgetragen hatte. Die hatte er eigentlich kultivieren wollen, um damit zu arbeiten, doch nun waren sie hin. Die Frage war bloß: Woran waren sie zugrunde gegangen, wenn nicht an Langeweile? An zu viel frischer Luft womöglich? So ungefähr.
Fleming nahm die Versuchsplatten unter seinem Mikroskop in Augenschein und entdeckte neben den toten Eitererregern noch etwas anderes: Pilzsporen, die er dort nicht aufgebracht hatte. Er zählte eins und eins zusammen und kam zu dem Schluss, dass sie durchs geöffnete Fenster eingedrungen sein mussten, dass er bei seiner Rückkehr vorgefunden hatte. Er wiederholte den Vorgang planmäßig unter kontrollierten Bedingungen und sah seinen Verdacht bestätigt: Die Sporen hatten dem Eiter den Garaus gemacht.
Die Weiterentwicklung dieser Zufallsentdeckung hieß Penicillin und revolutionierte die Therapiemöglichkeiten bakterieller Erkrankungen. Der ursprüngliche Typ Penicillin G rettete in den Jahrzehnten nach seiner Entdeckung unzählige Menschenleben und wird heute noch eingesetzt. Zu verdanken haben wir den Wirkstoff der Schusseligkeit eines zerstreuten Professors.
Eine weitere Erfindung, die auf einem Missgeschick beruht, haben Sie gleich viermal an Ihrem Auto: den Gummireifen. Bis 1839 hätte man dem Werkstoff Gummi keinesfalls das Leben von Fahrzeuginsassen anvertrauen können. Der Stoff wurde zwar bereits für verschiedenste Zwecke eingesetzt, doch seine Belastbarkeit war sehr begrenzt: die damals bekannten Mischungen schmolzen bereits bei relativ niedrigen Temperaturen und brachen schon bei mäßiger Kälte.
Bis Charles Nelson Goodyear 1839 ein Missgeschick unterlief. Er experimentierte in seinem Labor gerade mit einer Mischung aus Gummi und Schwefel, als er für einen Moment die Konzentration verlor und ein Stück der wenig wohlriechenden Mixtur auf eine heiße Herdplatte fallen ließ. Das Ergebnis war nicht nur ein erbärmlicher Gestank und eine ruinierte Herdplatte, sondern auch eine Gummikonsistenz, die bisher niemand in planmäßigen Versuchen hatte erzeugen können: korrosionsresistenter, abriebfester und temperaturbeständiger. Wenig später meldete Goodyear ein Patent auf einen Gummireifen an, der innerhalb kürzester Zeit seinen Siegeszug um die Welt antrat. Flemings unruhige Hand, die gewiss kein Chemiker unter "besondere Fähigkeiten" im Lebenslauf aufführen würde, sorgte für eine Erfindung, die es bis in Ihre Garage geschafft hat.
Für alles andere als Hochgefühle sorgte zunächst das berühmte Viagra bei seinen Schöpfern. Wie bitte? Ja, tatsächlich: Viagra erfüllte die Hoffnungen seiner Erfinder ganz und gar nicht. Sie hatten es nämlich nicht als Erektionshilfe, sondern als Medikament gegen Bluthochdruck entwickelt. Die Testreihen verliefen desaströs: Gegen den hohen Blutdruck der Probanden konnte das Mittel herzlich wenig ausrichten.
Dafür stellten sich bei vielen der männlichen Studienteilnehmer unerwartete Nebenwirkungen ein: Sie bekamen viel leichter als gewöhnlich eine Erektion. Es lässt sich mutmaßen, dass die durchführenden Mediziner selten Patienten gesehen hatten, die sich so wehmütig aus einer Studie verabschiedeten.
Bei Pfizer wurde man angesichts dieser Nebenwirkung hellhörig: Pharmakonzerne erkennen eine Goldgrube, wenn sie sie sehen. 1996 brachte Pfizer die blauen Pillen als Hilfe für Männer mit Erektionsstörungen auf den Markt – mit ungeahntem Erfolg. Das Totalversagen des Forscherteams, das ein Präparat gegen Bluthochdruck erfinden wollte, brachte dem Unternehmen Milliarden ein.
Angesichts der Effekte, die diese Fehler zeitigten: Wer sind wir, es besser zu wissen als das Schicksal und unsere Fehler unter den Teppich zu kehren? Ein Fehler kann Menschen retten, reich machen und den Nobelpreis einbringen!

Fehlerkultur einführen – aber wie?
Was haben die Erfinder aus den Geschichten gemeinsam, die ich Ihnen gerade erzählt habe? Sie haben ihre Fehler nicht nur erkannt, sondern ernst genommen. Sie haben sie nicht abgehakt, sondern darauf aufgebaut. Die Entdecker von Viagra haben sich mit ihrem Scheitern auseinandergesetzt und die interessante Nebenwirkung als die Chance erkannt, die sie darstellte. Charles Nelson Goodyear entsorgte den stinkenden Klumpen Gummigemisch nicht gemeinsam mit seiner Herdplatte, sondern ließ sich von seinem Missgeschick inspirieren. Und Alexander Fleming warf die kontaminierten Versuchsplatten nicht wütend in den Sondermüll, sondern legte sie unters Mikroskop. Stellen Sie sich mal vor, er hätte das nicht getan.
An diesen Forschern können wir uns ein Beispiel nehmen: Anstatt Fehler zu vertuschen, zu verdammen und ungeschehen machen zu wollen, können wir sie zum Thema machen. Denn was für diese Entdeckungen gilt, hat im Unternehmensalltag nicht weniger Bedeutung: Manchmal sind es die ungeplanten Umwege und Irrfahrten, die uns zum Ziel führen. Manchmal ist es ein Freud'scher Versprecher, der mehr Weisheit transportiert als die ganze Rede drum herum. Und manchmal ist es ein kleiner Patzer in der Projektplanung, der dafür sorgt, dass die Vertriebsstrategie den Kunden aus den Socken haut.
Die Angst vor Fehlern und der Unwillen, darüber zu reden, sitzen bei den meisten tief. Wie können Sie das ändern? Wie können Sie dafür sorgen, dass Fehler in Ihrem Umfeld nicht nur toleriert, sondern akzeptiert und zum Thema werden? Anders gefragt: Wie können wir das meiste aus unseren Fehlern machen?
Die Antwort gebe ich Ihnen frei nach Alexander Fleming: Indem Sie sie unters Mikroskop legen. Und zwar die Fehler, nicht Ihre Mitarbeiter. Das ist nämlich genau der Grund, warum im Meeting, das ich zu Beginn dieses Artikel beschrieben habe, keiner die Hand heben wollte: In den meisten Unternehmen wird der Wert von Fehlern nicht in Erkenntnis gemessen, sondern in Schuld. Deshalb gibt es in vielen Unternehmen keine gesunde Fehlerkultur.

Danke, dass Sie das verbockt haben!
Mitarbeiter, Kollegen, Erwachsene, Kinder – womöglich noch unter Androhung von Sanktionen – zur Offenlegung ihrer Fehler zu zwingen funktioniert nicht. Es sorgt eher dafür, dass sie sich verschließen. Die Angst, die einer konstruktiven Nutzung von Fehlern im Weg steht, können Sie Ihrem Umfeld – oder: Ihrem Publikum – nur nehmen, indem Sie es ermutigen zu seinen Fehlern zu stehen, und dabei mit gutem Beispiel vorangehen. Sie müssen niemandem vormachen, dass Fehler erwünscht seien. Doch mal ehrlich: Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass Menschen absichtlich Mist bauen? Fehler passieren – das kann auch der strengste Chef der Welt nicht verhindern.
Stellen Sie sich den überraschten Gesichtsausdruck eines verunsicherten Mitarbeiters vor, der für seinen Irrtum nicht vor versammelter Mannschaft zum Sündenbock erklärt, sondern dazu beglückwünscht wird, welchen Nutzen er daraus gezogen hat! Wir sollten Menschen nicht an ihren Fehlern messen – sondern daran, wie sie damit umgehen. Wertvoll ist ein Mitarbeiter nicht, weil er die Fehler, die alle anderen auch machen, erfolgreicher unter den Tisch kehrt als andere – sondern weil er dazu steht, daraus lernt und etwas daraus macht. Wer souverän mit Fehler umgeht, verdient keine Strafe, sondern Respekt.
Und tatsächlich, es gibt sie: Unternehmen, die den Wert von Fehlern verstanden haben und aktiv beim Qualitätsmanagement einsetzen. Im Tagungshotel Schindlerhof in Nürnberg zum Beispiel wird der „Fehler des Monats“ nicht verdammt und nicht unter den Tisch gekehrt, sondern: prämiert. Der Mitarbeiter, der für den Fehler verantwortlich zeichnet – und das tun die Mitarbeiter im Schindlerhof freiwillig – bekommt sogar ein kleines Präsent und ein Dankeschön von der Geschäftsführung. Dahinter steckt die Erkenntnis, dass das ganze Unternehmen von Irrtümern jedes Einzelnen profitieren kann: „Gut, dass Du diesen Fehler gemacht hast. So können wir alle daraus lernen!“

Jeder Fehler zählt
Es gibt sogar Situationen, in denen es auf jeden Fehler ankommt. Wenn ein Unternehmen neu gegründet wird, lernen die Gründer aus ihren Anfängerfehlern mehr als aus jedem Glücksgriff. In der Erprobungsphase neuer Prozesse oder Produkte schaut jeder erfahrene Unternehmer genauer auf die Risiken und Nebenwirkungen als auf das, was von Anfang an glatt läuft. Und wenn ein Unternehmen, eine Abteilung, ein Team vor einem Führungswechsel oder massiven Umstrukturierungsmaßnahmen steht, ist nichts gewisser als die Ungewissheit – und nichts ist produktiver als der Zustand des Trial & Error, der damit einhergeht. Wenn Fehler in dieser Phase vertuscht oder nicht angemessen ausgewertet werden, kann dieses Versäumnis über Erfolg oder Misserfolg entscheiden.
All diese Anlässe sind Redeanlässe. In kritischen Momenten brauchen Ihre Mitarbeiter jemanden, der Ihnen eine gesunde Fehlerkultur vorlebt. Der ihnen Geschichten über den souveränen Umgang mit Fehlern erzählt – und über die wundervollen Dinge, die daraus entstehen können. Seien Sie dieser Chef, seien Sie dieser Kollege, seien Sie dieser Redner! Erzählen Sie Geschichten wie die von Alexander Fleming, Charles Nelson Goodyear und Pfizer. Gehen Sie mit gutem Beispiel voran, und man wird es Ihnen danken.
Einer, der seinen Erfolg genau darauf gebaut hat, ist der größte Startup-Investor des Silicon Valley: Tim Draper. Er investiert ständig in Leute, die nichts außer einer guten Idee haben – und bis zum Markterfolg reichlich Fehler machen, bevor sich die Investition in ihre Marke rechnet. Trotzdem ist Draper durch seine zahllosen Investments nicht etwa ärmer, sondern nur noch reicher geworden. Zu seinen größten Erfolgen zählen Investments in Skype und Hotmail. Derzeit setzt er u. a. auf den Elektroauto-Hersteller Tesla.
Drapers Geschäftsmodell besteht darin, erfindungsreiche Menschen zu finanzieren, während sie alle notwendigen Fehler machen, bis ihre Idee funktioniert. Wir dürfen ihm also glauben, wenn er sagt: "Wenn du außergewöhnliche Fehler machst, können großartige Dinge passieren!"

Auf einen Blick: Wie Sie Fehler zum Thema machen
Fehler sind nichts, wovor man Angst haben müsste, denn sie passieren sowieso. Nehmen Sie lieber die Zaunpfähle, mit denen das Schicksal Ihnen winkt, und bauen sie einen schicken Zaun daraus. Ermutigen Sie als Redner, als Führungskraft, als Eltern, als Kollege und als Freund die Menschen in Ihrem Umfeld dazu, zu ihren Fehlern zu stehen und darüber zu reden. Das 'Glück des Tüchtigen' winkt nämlich nur denen, die einen außergewöhnlichen Fehler beim Schopfe packen, wenn er passiert.
• Setzen Sie sich in Ihrem Umfeld für eine gesunde Fehlerkultur ein, in der Fehler nicht tabuisiert, sondern thematisiert werden.
• Legen Sie nicht den 'Schuldigen' unters Mikroskop, sondern den Fehler in der Sache.
• Skalieren Sie nicht das Strafmaß für einen Fehler, sondern den Erkenntniswert, der sich daraus ziehen lässt.
• Klopfen Sie Irrtümer und Missgeschicke darauf ab, ob sich etwas daraus machen lässt.
• Erzählen Sie Geschichten von Menschen, die aus einem außergewöhnlichen Fehler etwas Großartiges geschaffen haben.

Kommen Sie gut an!
Ihr
René Borbonus

Mehr Infos unter www.rene-borbonus.de