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Muss man immer die Wahrheit sagen?

Lebe aufrecht! Was heißt das überhaupt: ethisch korrekt handeln?
Ulf D. Posé | 24.05.2015
Muss man immer die Wahrheit sagen?

„Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort“: die aufrichtige Beteuerung eines norddeutschen Ministerpräsidenten. „I never had sex with this woman“: der aufrichtige Erklärungsversuch eines amerikanischen Präsidenten. „Ich habe ein reines Gewissen“: ein Fußballtrainer, der dem Vorwurf des Koksens aufrichtig begegnen wollte. Alle sprachen mit grundehrlichem Augenaufschlag, alle haben enttäuscht. Aufrichtigkeit ist ein Thema.

Aufrichtig ist ein Mensch, der sich selbst treu bleibt. Ursprünglich ist das Wort „aufrichtig“ mit „richtig“ verwandt. Es bedeutet „aufrecht, ehrlich, unverfälscht“. Aufrichtig hat sich aus „aufrecht gehen“ entwickelt, bedeutete also, dass ein Mensch senkrecht geht. Aufrichtig meint heute, dass das Denken, das dem Handeln zugrunde liegt, ethisch gut ist. Zur Aufrichtigkeit gehört auch, die eigene, begründete Überzeugung ohne Verstellung, also authentisch, auszudrücken.

Der Literaturwissenschaftler Lionel Trilling definiert Aufrichtigkeit in seiner viel zitierten Studie Sincerity and Authenticity als „die Übereinstimmung zwischen Gefühl und Äußerung“. Aufrichtig zu sein, bedeutet, an Authentizität zu gewinnen. Ähnlich sah das der französische Dichter Charles Baudelaire. Für ihn war Aufrichtigkeit der Weg zur Originalität.

Um aufrichtig zu sein, sollte man durchaus mutig sein, denn der Mut zu einer angstfreien und unverstellten Selbstdarstellung ist eine notwendige Voraussetzung für das Gelingen von Gesprächen. Sonst entstehen Beziehungsstörungen. Solche Störungen entstehen durch Herabsetzung oder Bevormundung des Gesprächspartners: indem man ihn lächerlich macht, ihn nicht ernst nimmt, ihm Abneigung zeigt, ihn demütigt oder aber ihm Anweisungen erteilt oder ihm Vorschriften macht, ihn kontrolliert oder ihm mit Besserwisserei begegnet. In der Folge geraten die sachliche und die persönliche Ebene durcheinander:

– Sachliche Differenzen werden persönlich ausgetragen.

– Persönliche Differenzen werden auf der sachlichen Ebene ausgetragen.

– Menschen empfinden jeden sachlichen Widerspruch als persönlichen Angriff und reagieren entsprechend.

Die Angst vor der Selbstdarstellung äußert sich in Imponiergehabe und Fassadentechnik. Mit Imponiergehabe meine ich, dass jemand Eindruck schinden will, sein Wissen heraushängen lässt, balzt und kokettiert. Fassadentechnik meint, dass jemand keine Gefühle zeigt, professionelles Gehabe an den Tag legt oder sich durch Freundlichkeit ohne Herzlichkeit oder kalte Sachlichkeit auszeichnet. Ein aufrechter Mensch hat dies nicht nötig, er hat keine Angst vor Selbstdarstellung.

Angst vor der Selbstdarstellung ist die eine Seite. Aber auch aus der anderen Richtung ist die Aufrichtigkeit gefährdet: Es droht die Gefahr der Selbstüberschätzung.

Die Grundlage jeder gekonnten Interaktion ist also die Fähigkeit, sich selbst problemlos mitzuteilen, sich angstfrei und unverstellt darstellen zu können. Dazu ist es erforderlich, dass wir zu Menschen stets so sprechen, wie diese mit uns reden können, ohne die Beziehung zu gefährden. Dies durchzuhalten ist sicher nicht einfach. Es stellt enorme Ansprüche an die Sprachkompetenz des Einzelnen, die Besonderheit der eigenen Gefühle und Gedanken unverfälscht wiedergeben zu können.

Wie ist es nun um die Fähigkeit bestellt, Unaufrichtigkeit zu erkennen und zu vermeiden? Schon der irische Dramatiker George Bernard Shaw war der Auffassung, Aufrichtigkeit in heutiger Zeit sei allenfalls eine Tugend des Zuschauers, nicht der handelnden Personen. Die bange Frage ist: Für die Bühne mag das gelten, aber auch im wirklichen Leben? David Dunning und Nicholas Epley von der amerikanischen Cornell University haben dies untersucht. Sie haben festgestellt, dass die meisten Menschen den Egoismus und die Unaufrichtigkeit anderer sehr gut beurteilen können, schwierig wird es nur bei der eigenen Person. Die Psychologen befragten Studenten, ob sie eine schwierige und beschwerliche Arbeit selbst verrichten oder lieber an ein zehnjähriges Mädchen, das große Schwierigkeiten mit der Aufgabe hätte, abgeben würden. Die meisten Befragten erklärten daraufhin, sie würden die Arbeit selbst erledigen wollen. Nur wenige der Studierenden wollten das Mädchen schuften lassen. Waren sie allerdings tatsächlich mit einer solchen Situation konfrontiert,so vergaßen die meisten Studenten ihre Selbstlosigkeit und wälzten die Arbeit ab.

Aufrichtigkeit ist also ein schwieriges Geschäft, wie schon Schopenhauer vermutete. Er meinte noch: „Die Freunde nennen sich aufrichtig, die Feinde sind es.“ Ehrlichkeit hat es schwer, zumal dann, wenn im Alltag Menschen bestraft werden, die offen und ehrlich ihre Gefühle und eigenen Schwächen vor anderen ausbreiten.

Doch hat Ehrlichkeit sicher eine Chance, wenn sie frei bleibt von Bösartigkeit und Gift. Ehrlich ist ein Mensch genau dann, wenn er ohne Verstellung offen ist. Dazu ist es notwendig, dass er auf verdeckte Kommunikation verzichtet.

Verdeckt ist eine Kommunikation immer dann, wenn ich über ein Wissen verfüge, das zu einer kommunikativen Handlung führt, dies aber dem Betreffenden nicht mitteile. Wird ein Mensch im Netz verdeckter Kommunikation gefangen, führt das zu massiven Störungen des Selbstkonzepts und auch der sozialen Beziehungen.

In der systemischen Psychologie hat man einen Zusammenhang zwischen psychischen Erkrankungen von Familienmitgliedern und verdeckter Kommunikation festgestellt. Ist ein Familienmitglied erkrankt, müssen deshalb alle therapiert werden, um aus dem Netz der verdeckten Kommunikation herauszukommen. Es reicht nicht aus, den Einzelnen zu therapieren, weil das System gestört ist. Verdeckte Kommunikation sagt zum Beispiel den eigentlichen Grund für eine Frage nicht, schiebt sekundäre Gründe vor.

Es geht allerdings nicht um Ehrlichkeit um jeden Preis. In der humanistischen Psychologie spricht man von „selektiver Authentizität“: Mache dir bewusst, was du denkst und fühlst, und wähle, was du sagst und tust. Es geht also auch hier um Verantwortung: Es kann sogar erforderlich sein, die Wahrheit nicht zu sagen oder sogar die Unwahrheit zu sagen. Dafür gibt es im Sinne der Aufrichtigkeit eigentlich nur zwei Gründe: Entweder wenn es darum geht, den Schutz eigenen und fremden Lebens zu sichern. Oder wenn das, was ich denke, die Lebenschancen eines anderen mindern würde, sobald ich es ausspreche.

Es geht um die Empathie, das Einfühlungsvermögen. Der andere muss sich in dem, was ich sage, auch wiederfinden können. Meine Aussage darf das Selbstkonzept des anderen nicht fahrlässig infrage stellen. Viele Menschen aber kümmern sich um das Selbstkonzept ihres Gesprächspartners überhaupt
nicht – ein schwerwiegender Fehler! In einer gelingenden Kommunikation wird das Selbstkonzept dynamisiert, aber nicht infrage gestellt oder gar vernichtet.

Also: Seien wir aufrecht, der Umgang mit den Mitmenschen wird dadurch
noch leichter. Viel Spaß dabei.
Ihr Ulf D. Posé