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Marketingautismus

Innovationen in der Marketingwissenschaft kommen nach wie vor nur von Außen.
Im Inneren nur Konzentration auf Nischenthemen statt Weiterentwicklung.
Klaas Kramer | 13.01.2009
Leistungsgrenze überschritten
Die Marketingwissenschaft steht schon seit fast drei Jahrzehnten in der Kritik, an veralteten mechanistischen Denkansätzen festzuhalten, während andere wirtschaftsnahe Disziplinen – etwa die Organisationslehre – weit offener sind und seit eh und je neue Theorien und Modelle auf ihre Tauglichkeit überprüfen.
Die Marketingtheorie ist in dem Stadium stecken geblieben, eine mehr oder weniger gelungenen Auflistung und Systematisierung dessen anzubieten, womit sich Unternehmen bei der Anpassung und Gestaltung ihrer Märkte beschäftigen.
Bei der Einpressung in die Systematik der Betriebswirtschaftslehre gehen jedoch die wirklich entscheidenden Erfolgsmomente marktadäquaten Handelns verloren.
Genauso wenig wie Betriebswirtschaftslehre Management Sciences, sind ist die Marketingwissenschaft eine Marketingkunst. Sie bietet allenfalls Hilfestellung bei der Transformation von Methoden der empirischen Sozialforschung in abgespeckte bezahlbare Tools für die Marktdatenerfassung.

Hermetische Reproduktion
US-amerikanische Autoren (Trout, Aaker, Joachimsthaler) liefern schon länger einen gänzlich anderen Ansatz bei der Erklärung und Hilfestellung zu Marketingentscheidungen. In der universitären Lehre hierzulande finden sie aber kaum Einzug, weil sie weder in Sprache noch Systematik in den Duktus der deutschen Betriebswirtschaftslehre passen. Lediglich Kotler schafft die Gradwanderung zwischen der US-amerikanischen Sichtweise und der betriebswirtschaftlichen Systematik und ist damit seit vier Jahrzehnten Marktführer.
Deutsche Autoren von Hörschgen über Meffert, Bruhn bis Esch greifen an der Stelle wo die Betriebswirtschaft am Ende ist – nämlich beim Einfluss auf das Konsumentenverhalten – auf den umstrittenen Joker Kroeber-Riel zurück.
Hirnforschung und Neurowissenschaft werden nur als neueste Bestätigung des längst bekannten herangezogen. Die wesentlich aussagekräftigeren Kommentare der seriösen Hirnforscher lässt der Marketingwissenschaftler weg – sie könnten nur verwirren.
Moderne Erkenntnistheorie und darauf aufbauende soziologische und psychologische Theorien finden zwar Erwähnung, lassen sich aber nicht in die weitgehend hermetisch in sich schlüssige und geschlossene Marketingwissenschaft alter Schule integrieren. Sie sind ja keine Detailwissenschaft deren Erkenntnisse man an gegebener Stelle anwenden könnte. Sie wären die übergeordnete Klammer, um die Verhältnisse im strategischen Dreieck (Unternehmen – Markt – Wettbewerb) neu zu beobachten und zu beschreiben.

Erkenntniswissenschaftliche Erneuerung
Warum aber stäubt sich unsere Marketingwissenschaft vor der erkenntnistheoretischen Erneuerung? Der Grund dafür ist in einem Grabenkampf zu vermuten, der innerhalb unseres Wissenschaftssystems zur Erstarrung geführt hat. Belohnt wird nicht Interdisziplinarität, sondern eine Aufspaltung in kleine Sparten ohne jede Schnittmenge selbst zu nahe verwandten Forschungsfeldern. Jeder junge Marketingwissenschaftler definiert zwecks Selbstpositionierung ein schmales Nischenthema, um dort die Nummer Eins zu werden: etwa „Empirische Befunde von Entscheidungsheuristiken im Bestellwesen für Verbrauchsgüter im Strickmaschinenbau“. Schade, dass bei uns nur mit solchen Themen wissenschaftliche Reputation zu erlangen ist.
Derweil hat sich im europäischen Ausland in den vergangenen 25 Jahren die Marketingwissenschaft weiter entwickelt: Schon 1983 sehen Peter und Olson die Aufgabe der Marketingwissenschaft so: „As marketing scientists we should be concerned to make our discipline more effective in creating useful knowledge about our subject matter. We believe that such improvements are best achieved by adopting the relativistic/ constructionist approach to science advocated here.“
1985 konstatierte Arndt: „On the basis of the role of the researcher and objectives of research, three orientations were identified: empiricism, criticism, and constructivism.“ In den Neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts ging es folgerichtig darum, ob bei einer radikal konstruktivistischen Perspektive die empirische Forschung – insbesondere die praktische Markt- und Medienforschung – auf Basis des Kritischen Rationalismus überhaupt noch tragfähig ist. Immerhin basiert diese Forschung auf der Annahme einer beobachterunabhängigen objektiven Wirklichkeit. (Hunt 1990/93/94; Peter 1992; Mardsen, Littler 1996; Cunningham 1999).

Rettung von Außen
Fortschritte im deutschen Sprachraum kommen von Außerhalb der Marketingwissenschaft: Das große Interesse am Thema Marke hat dazu geführt, dass sich Kai-Uwe Hellmann (2003) dem Thema ohne marketingwissenschaftlichen Ballast genähert hat und mit seinen Erkenntnissen auch Marketingpraktiker beeindrucken konnte. Inzwischen sind eine ganze Reihe weiterer Werke erschienen, die sich dem Thema Marke auf Basis luhmann'scher Systemtheorie nähern.
Eine Alternative zur vorherrschenden Systematik von Produkt-, Preis-, Vertriebs- und Kommunikationspolitik ist die Unterscheidung dreier grundlegender marktbezogener Operationen, die jedes Unternehmen vornimmt: Marktbeobachtung, Marktbeschreibung und Marktgestaltung. Von dort ausgehend können die wirklich erfolgskritischen Momente erkannt und Marktteilnehmer durch anschlussfähige Sinnangebote zur Zahlung motiviert werden. (Kramer 2002)
Die lang vermisste Betrachtung des Marketings aus der Perspektive der soziologischen Systemtheorie lieferte 2006 Marius K. Lüdecke. Sein Ansatz überwindet sowohl das Exchange-Paradigma als auch die 4-7-P-Systematik. Bezeichnenderweise ist das Werk nur in englischer Sprache erschienen.
Wie Märkte im Web 2.0 funktionieren, dazu hat kein einziges herkömmliches Marketingbuch einen Erkenntnisbeitrag liefern können. Alle fruchtbaren Erklärungsansätze stammen von Außerhalb.

Im Inneren nichts Neues
Professoren wie Bergmann oder Mühlbacher, die die Erstarrung der Marketingwissenschaft seit Jahren kritisieren, bilden die Ausnahme und werden von den „großen Namen“ gepflegt ignoriert. Ironischerweise ist das Festhalten am Paradigma des Kritischen Rationalismus ein Versagen am selbigen. Denn der Kritische Rationalismus verlangt gerade, immer nach Methoden zu suchen, die die bisherige Arbeit in Frage stellen – dem Ziel dienend, die Forschung voran zu bringen. Anstatt sich daran zu halten, konzentrieren sich die Inhaber unserer Lehrstühle immer mehr auf empirische Forschung in Detailzweigen. Wohl auch deshalb, weil sich Ergebnisse in diesen Disziplinen einfacher an die Praxis verkaufen lassen. Datensammlungen werden eben eher nachgefragt als neue raffinierte Beobachtungswerkzeuge und Modelle – erst recht dann nicht, wenn sie sich dem Steuerungswahnsinn der Betriebswirtschaft entziehen.
Deshalb sind die Partner für eine wirklich progressive Marketingwissenschaft weniger in den Abteilungen von Großkonzernen zu sehen, als vielmehr in der unternehmerisch denkenden Innovationselite des mittleren und großen Mittelstandes.
Eine weitere Zielgruppe sind Volkswirtschaftler und Politikberater, die Interesse daran haben sollten, der Eigendynamik virtueller Märkte auf die Spur zu kommen, damit Wirtschaftsakteure nicht immer wieder Opfer selbst produzierter Blasen werden.
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Über Klaas Kramer

Vermittlung von Konzepten, Denk- und Handlungsmodellen für Bewusstwerdungsprozesse zur Vorbereitung auf künftige Herausforderungen im Marketing-Mana