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Nichts sehen, nichts hören, nichts tun - oder?

Das Kassandra-Prinzip – oder: Systemische Wege der Lösung
Karin Probst | 16.02.2015
Der Gott Apollon war von Kassandras Schönheit sehr angetan und verlieh ihr die Gabe der Weissagung. Als sie sich jedoch seinen Verführungskünsten widersetzte, verfluchte er sie, auf dass niemand mehr ihr Glauben und Gehör schenken würde. So warnte sie vergeblich vor dem trojanischen Pferd – der Untergang Trojas ist Geschichte…

Leider ist der „Kassandra-Ruf“ noch immer nicht Geschichte. Tagtäglich erfahren engagierte Mitarbeiter, dass ihr Warnen oder ihre Bedenken nicht gehört werden – und sie sogar empfindliche Folgen für ihre Karriere oder ihre Beziehungen auf sich nehmen müssen, wenn sie das ansprechen, was eigentlich so gar nicht sein kann. Hier einige Beispiele aus dem Alltag, wie Zeit und Energie verschleudert werden und viel Leid entsteht:

Ein Software Ingenieur entwickelte vor ca. 15 Jahren eine Software für ein weltweit agierendes Unternehmen. Seit sieben Jahren mahnt er an, dass dringend Verbesserungen nötig wären. Niemand hört hin. Er bringt sich über sein permanentes Mahnen und Ausbessern der Schwachstellen ins gesundheitliche Aus: Seit 3 Wochen ist er in einer Burnout-Klinik...

Ein Paar in Ehestreitigkeiten, der Mann heiratet eine Anwältin, eine Prozesslawine beginnt. Das Kind kommt zu einer Pflegefamilie, die mit Wissen des Jugendamts das Kind schlägt. Nichts geschieht, im Gegenteil: Die Mutter als Mahnerin der Missstände kommt immer mehr ins Aus und auch ihr bleibt nichts übrig, als ohnmächtig zuzusehen, wie ihr Kind unter den Augen von öffentlichen Institutionen schlecht behandelt wird…

Ein Koma-Patient wird in einer Pflegeeinrichtung mangelnd versorgt, leider findet sich kein Arzt, keine Krankenkasse, keine Institution, die die Missstände benennt, man hört nur ein: „Uns sind die Hände gebunden.“ Das auszuhalten, obwohl ein geeigneter Pflegeplatz verfügbar wäre, ist kein Leichtes. Die Lebenspartnerin kämpft selber mit ihrer ohnmächtigen Erschöpfung und erfährt statt Unterstützung eher Ausgrenzung...


In einem Unternehmen wird die Einführung in die systemische Grundhaltung beschlossen. Schnell zeigen sich die blinden Flecken von Seiten der Führung. Leider will kein Mitarbeiter diese außerhalb des Coachings benennen. Der Prozess stagniert. Niemand findet den Mut, das öffentlich auszusprechen, was alle in den Raucherecken munkeln – und da der Coach nichts ohne Entbindung der Schweigepflicht sagen kann, geht’s nicht weiter. Aber zu oft hat man in diesem Betrieb schon die Erfahrung machen müssen, dass man besser die Klappe hält…

Annehmen, was eigentlich nicht anzunehmen ist
Es wäre ein leichtes, noch mehr dieser Begebenheiten zu schildern. Als Coach begegnet man diesen Geschichten, in denen Menschen lernen müssen, das auszuhalten, was eigentlich nicht auszuhalten ist, täglich. Man trifft Menschen, denen die Effizienz und Leistungsfähigkeit eines Unternehmens am Herzen liegen – aber keiner fragt – oder hört hin. Und genau dies führt bei den Betroffenen zur Frustration und Verbitterung – bis hin zu gesundheitlichen Einbußen. Für die Betroffenen ist diese tiefe Erfahrung des Aufgebens von allem, woran man in einem demokratischen Staat geglaubt hat, oder von dem, was sich aus Ethik und Logik ableitet, sehr schicksalhaft. Im Grunde kann man sagen, hier entscheidet sich ganz banal, ob jemand daran kaputt geht – oder weise wird.

Lösungen finden durch Wahr-nehmen
Wenn also sowohl im Privaten als auch im Beruflichen Lösungswege oft nicht nach den Gesetzen der Vernunft, Effizienz oder dem tiefen Bedürfnis, sich zum Wohle aller Beteiligten zu engagieren, ausgerichtet werden, wonach dann? Warum ist gerade ganz aktuell eine Kampagne nötig mit dem Titel: „Schau nicht weg!“ – hier in Bezug auf Kindesmisshandlung? Und warum sind gerade so viele Menschen im Coaching, die eigentlich nichts anderes machen wollten, als ihrem Unternehmen zuzuarbeiten, durch ihre Verbesserungsvorschläge, durch ihre Kritik oder ihr Hinterfragen? Wie kann man ausrechnen, was dadurch verloren geht, dass man diesen Menschen nicht nur nicht zuhört, sondern sie als Bote der schlechten Nachricht ablehnt oder ihnen das Leben schwer macht? Was passiert, dass kluge Menschen nicht mehr die Bereitschaft haben, den guten Gründen des anderen zuzuhören und gemeinsam eine Lösung zu finden, die für beide tragbar ist? Dieser Krieg des Alltäglichen, in dem die Kontrahenten die gleichen Argumente mit wechselnder Lautstärke vortragen, um den Gegner von der eigenen Meinung zu überzeugen, ähnelt den Glaubenskriegen aller Zeiten und Religionen. Immer, wenn einer meint, nur er habe Recht und der andere nicht, kann nichts Gutes entstehen.

Zeit für eine neue Kultur
Wie kann man also sowohl im Unternehmen als auch in Institutionen oder Familien eine Kultur errichten, in der die verschiedenen Facetten einer Wirklichkeit gehört werden? Bitte machen Sie sich selbst einmal ein Bild davon, ob Sie in der Lage sind, objektiv wahrzunehmen und zählen Sie, wie oft Sie ab hier den Buchstaben F zählen können:

Test der Wahrnehmungsfähigkeit
FEATURE FILMS ARE THE RESULT OF SCIENTIFIC RESEARCH COMBINED WITH THE PROFESSIONAL EXPERIENCE OF YEARS AND THE EFFORTS OF MANY PEOPLE

Und, wie viele Fs haben Sie gezählt? Fragen Sie ruhig auch Ihre Kollegen. Sie werden staunen über die unterschiedlichen Ergebnisse. Meist werden 7 Fs in dem Rahmen gezählt, nur sehr selten wird das richtige Ergebnis genannt: Es sind 10 Fs.

Probleme entstehen meist durch Annahmen und Bewertungen
Wo ist das erste F? Richtig, bei WahrnehmungsFähigkeit. Oft wird der Titel überlesen, weil wir annehmen, wir sollen nur den englischen Text überprüfen. Und hier sieht man ein wichtiges Axiom in der systemischen Arbeit: Probleme entstehen meist durch Annahmen. Man hat eine Annahme und überprüft diese noch nicht einmal. Im Business kann das zum Beispiel die Annahme sein, der Kollege möchte sich nur profilieren oder sich einen faulen Lenz machen… Nur sehr wenige Teilnehmer hinterfragen in den Seminaren ihre Annahme, sondern zählen einfach falsch. Wir sind also kaum in der Lage, 22 Worte objektiv zu zählen. Wie soll es uns dann gelingen, komplexe Kommunikationsvorgänge zu analysieren? Die zweite Fehlerquelle ist die der Bewertung. Viele zählen hier die OFs nicht mit, weil OF ein Wort von geringer Bedeutung ist. Das Hirn blendet es ganz einfach aus. Und deshalb kommen die Teilnehmer oft nur auf 7 statt auf 9 Fs. Was bedeutet das für unsere tägliche Praxis?

Einsehen durch den „Perspektivwechsel“
Max Frisch hat in seinen Tagebüchern sinngemäß geschrieben, dass die Wirklichkeit wie ein Prisma ist, mit sehr vielen Facetten – und die Zeit leider immer nur eine Facette beleuchtet. Wenn man also eine Gesprächskultur erzeugen könnte, in der jeder fürs erste seine Facette beleuchten kann – ganz ohne Gegenargumente oder Abwertungen – dann würde das zwar erst einmal Zeit in Anspruch nehmen, aber hinterher so viel Zeit sparen. Dadurch kommen die Kriterien einer guten Lösung oder auch die guten Gründe, warum man eine scheinbar attraktive Lösung nicht annehmen kann, auf den Tisch. Und erst dann, wenn alle Informationen sichtbar sind, kann das stattfinden, was man im Systemischen den „Perspektivwechsel“ nennt: Ein „Einsehen“ kann beginnen – statt langen Argumentationen der Verteidigung oder gegenseitiger Beschämung und Beschuldigung.

In fünf Schritten zu einer guten Lösung
Die meisten Burnout-Erkrankungen in Unternehmen rühren daher, dass die guten Gründe des Betroffenen nicht gehört, Ideen zur Verbesserung abgeschmettert und berechtigte Einwände mit miesen Argumentationen ausgehebelt werden. Zeit also für eine neue Kultur, die Zeit und Geld spart – auch wenn sie zunächst einmal mehr Zeit braucht. Im Chinesischen wird der Begriff des „Handeln ohne zu handeln“ geprägt. Das hat eine beinahe paradoxe Anmutung. Und doch lohnt es sich, statt blindem Aktionismus in folgenden fünf langsamen Schritten zu einer guten Lösung zu kommen:

Schritt 1: Lösungskonferenz einberufen
Alle Beteiligten an einen Tisch rufen. Ein Flipchart wäre von Vorteil. Warme Getränke sollten auf keinen Fall fehlen! Der Zeitrahmen ist ganz klar definiert: Teilnehmerzahl x zu vereinbarte Redezeit pro Teilnehmer, empfehlenswert ist pro Teilnehmer max. 5 Min.

Schritt 2: Facetten der Wirklichkeit hören
Jeder Teilnehmer erhält 3-5 Minuten, um seine Position darzulegen. Es darf nicht diskutiert werden, nur zugehört, ggf. schriftlich notiert. Die jeweilige Positionsdarlegung sollte eine kurze Analyse des Konflikts beinhalten: Was sind meine Annahmen zu dem Konflikt, was hat dazu geführt – und dann, das ist das wichtigste: Was wäre aus meiner Sicht eine gute Lösung. Was bräuchten wir hierfür von wem, was bin ich bereit, dazu beizutragen, etc. Die Problemanalyse sollte nicht mehr als 30 % des Redebeitrags ausmachen.

Schritt 3: Pause einlegen
Mindestens 30 Minuten, am besten im Schweigen. Oder gleich für den nächsten Tag ein neues Treffen vereinbaren, damit sich die einzelnen Wirklichkeiten bei jedem erst einmal setzen können. Oft zerredet man gute Gedanken zu schnell.

Schritt 4: Kriterien der guten Lösung finden
Jeder schreibt zwei Kärtchen mit den wesentlichen Stichpunkten, an denen er eine gute Lösung erkennen kann. Was muss erfüllt sein, damit er zufrieden mit der neuen Lösung sein kann? Eine Priorisierung kann hilfreich sein: Dieses Kriterium muss, dieses kann erfüllt sein. Zum Beispiel: 1. Mir ist wichtig, dass eine Arbeitsersparnis von 30 % ermöglicht wird, 2. Mir ist wichtig, dass es mindestens zwei Tage Einführung für die Mitarbeiter gibt. Denken Sie bitte bei den Kriterien daran, diese SMART zu formulieren: S = Spezifisch: Was genau, welches Bedürfnis? M = Messbar: Wieviel genau – also nicht: Ich möchte ein bisschen Entlastung, sondern: Ich möchte täglich 30 Minuten Zeit sparen, A = Annehmbar, Attraktiv, R = Realistisch, T = Terminiert: Bis wann genau, spätestens, frühestens.

Schritt 5: Äpfel ernten
Man kann an einem Äpfelchen ziehen, solange man will, es löst sich erst leicht vom Baum, wenn es reif ist. Und genau so ist es auch mit allen Lösungen: Sie lösen sich zum richtigen Zeitpunkt mit der richtigen Vorarbeit meist von selbst. Um diesen feinen Zustand zu erreichen, können die Teilnehmer jetzt reflektieren oder improvisieren, welche Lösungsmöglichkeit die meisten Kriterien erfüllen könnte. Zumindest ein Kriterium muss dabei allerdings von jedem Mitglied erfüllt sein.

Zum Abschluss noch ein ganz einfacher Tipp zum Zeitsparen beim Lösungsfinden: Einfach mal die eigene Beteiligung anerkennen anstatt sich zu verteidigen. Und mit Mitgefühl auf den anderen eingehen nach dem Motto: Das war sicher schwer für Sie… Meist brauchen die Menschen gar nicht mehr. Wir diskutieren zu früh über Lösungen, statt die Kriterien der guten Lösung zu kennen, oder durch Mitgefühl überhaupt erst die Bereitschaft zu erzeugen, für die Lösungsvorschläge anderer offen zu sein.