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Omni-Commerce: Kunden statt Kanäle

Blick hinter die Kulissen - Der Point of Interest wird Point of Sale.
Tim Hahn | 04.05.2016
Vor Kurzem erreichte uns eine Umfrage zum Themenkomplex Digital Business und dem prägendsten Trend für 2016. Es standen einige Möglichkeiten zur Auswahl, wir entschieden uns für „Everywhere Commerce“. Denn dank mobiler Endgeräte wird heutzutage die Bahnfahrt zur Arbeit gleichzeitig zum Shoppingtrip. Handel ist also überall. Aber ist das alles?

Wie ist der moderne Handel zu fassen?


Der Begriff Everywhere Commerce ist tatsächlich nicht ganz passend, um aktuelle Entwicklungen zu beschreiben. Das hat nichts damit zu tun, dass er schon einige Jahre alt ist und es mit Omnichannel, Cross-Channel etc. mittlerweile genügend modernere Synonyme gibt, die vom Marketing durch die Medienlandschaft gepeitscht werden. Fakt ist, dass Handel – zumindest im B2C – mittlerweile nicht nur (fast) überall, sondern auch nahezu zu jeder Zeit möglich ist. Es müsste also „Everywhere und Everytime Commerce“ heißen. Gleichzeitig verschränken sich die diversen Kanäle funktional immer weiter und lassen sich in ihrer Bedeutung kaum noch differenzieren. Seit sich auch der stationäre Handel der Digitalisierung öffnet und mobile Konzepte integriert bzw. die Stores und deren Systeme als produktiven Bestandteil einer übergreifenden, vernetzten IT-Infrastruktur versteht, macht eine Unterscheidung nach Kanälen, nach Online und Offline-Welt keinen Sinn mehr. Alle Channel-Bezeichnungen führen damit genauso in die Irre. Die neuen Technologien haben das Konsumverhalten dynamisiert: Denn heute können Kunden erstmals frei entscheiden, wann, wo und immer öfter auch wie sie einkaufen. Die Möglichkeiten sind nahezu unbegrenzt. Der Handel ist dabei, ein absolut verfügbarer Prozess zu werden. Die neue Realität heißt Omni-Commerce.

E-Commerce ein Auslaufmodell?

Was bedeutet das für den E-Commerce als Kanal, Branche und als Technologie? Gehört er vor dem Hintergrund des digitalen Wandels ebenfalls zu den Auslaufmodellen? Zwei Dinge gilt es dabei zu bedenken: den Altersdurchschnitt der Bevölkerung in Verbindung mit typisch menschlichen Beharrungskräften einerseits und die Entwicklungsfähigkeit des E-Commerce andererseits.

Demografie & Psychologie:

Nach aktuellen Studien des ECC-Köln [1] gibt es zwar eine Tendenz, mit zunehmendem Alter seltener online zu shoppen: In der Gruppe der bis zu 29-Jährigen kaufen 74 Prozent mindestens einmal im Monat online ein. Bei den über 50-Jährigen sind es „nur“ noch 68 Prozent, die regelmäßig online shoppen. Die Abweichung ist also nicht gewaltig. Hinzu kommt, dass der Online-Handel in den letzten Jahren kontinuierlich gewachsen ist, lediglich die Wachstumsraten haben sich 2014 / 2015 etwas verringert. Zieht man jedoch detailliertere Statistiken heran, lässt sich erkennen, dass dieses Wachstum nicht über alle Alterssäulen gleich verteilt ist, sondern am stärksten von den nachwachsenden Generationen junger Erwachsener getragen wird. Sicher, auch meine Eltern kaufen online ein, aber eben weniger als ich. Und ich für meinen Teil reagiere weniger auf Social Advertising als die jüngeren Kollegen bei netz98.

Kurz: Je älter wir werden, umso weniger sind wir bereit, uns auf Neues einzulassen. Wer heute also den E-Commerce im Sinne eines klassischen Online-Handels über Webshops für tot erklärt, weil der Markt so dynamisch sei, verkennt, dass die Marktteilnehmer auch gerne mal träge sind. Für neueste Transaktionsmodelle wie den Amazon Dash-Button, Curated Shopping à la modomoto, YouTubes Click-to-Shop, betreutes Shopping via enjoy.com oder Operator.com bis hin zu Shareconomy wie bei Uber ist eben noch nicht jeder zu haben.

E-Commerce = Evolution

Nichtsdestotrotz sind diese Technologien und Konzepte auf dem Markt und befriedigen die Anforderungen bestimmter Zielgruppen. Vermutlich werden einige Konzepte wieder verschwinden, weil ihre Bereitstellung aktuell mehr kostet als sie einbringt, die Zielgruppen also noch nicht ausreichend groß sind. Bei entsprechender Marktreife werden sie dann von den „Late Movern“ wieder aufgegriffen. Wie auch immer sich die einzelnen Angebote entwickeln, sicher ist, dass sich das Konsumverhalten mit der zunehmenden Vielfalt an digitalen Angeboten und Geschäftsmodellen weiter verändern wird. Man sieht schon heute, dass die Konvergenz der Kanäle, die Gleichzeitigkeit von Informations- und Transaktionsmöglichkeiten immer weiter zunimmt. Nur über Art, Umfang und Meilensteine des Wandels lässt sich nichts Konkretes sagen.

Hier kommt die größte Stärke des E-Commerce zum Tragen: seine Vielseitigkeit. Alle der genannten Verkaufsmodelle benötigen für die Transaktion eine Plattform, die die Prozesse abwickelt, eine Oberfläche, die diese dem Kunden darstellt und Experten, die Plattform und Prozesse entwickeln, einrichten und betreuen. In fast allen Fällen ist das der E-Commerce, als Technologie und als Branche. Im Markt gibt es mittlerweile die unterschiedlichsten E-Commerce Softwaresysteme für die unterschiedlichsten Anforderungen. Manche von ihnen sind so hochgradig anpassbar, dass das Ergebnis nichts mehr mit einem klassischen Shopfrontend, Warenkorb und Checkout zu tun hat. E-Commerce ist schon seit Langem mehr als nur einfach ein Webshop. Das interne Bestellsystem der Burger King Filialen Deutschlands etwa läuft auf einer Magento-Plattform, einem der verbreitetsten Shopsoftware-Systeme mit einer breiten Palette an Standard-Oberflächen und Modulen. Die Mitarbeiter von Burger King werden aber vergeblich nach diesen Standards in ihrer Bestelloberfläche suchen. Lediglich hinsichtlich der Usability und der Prozessgestaltung entspricht sie den gewohnten Merkmalen eines Online-Shops.

Entwicklung im B2B


Überhaupt zeigt sich im B2B-Geschäft noch gewaltiger Bedarf an E-Commerce-Lösungen aber auch das nötige Potenzial. Leider gibt es dazu keine brandaktuellen Marktzahlen, die letzte Erhebung ist von 2013 (der B2B E-Commerce hatte einen Anteil von einem Prozent am gesamten B2B-Umsatz). Periodische Unternehmensbefragungen wie der B2B E-Commerce Konjunkturindex von intellishop und des ECC Köln oder eine Erhebung von Eurostat, nach der der Online-Einkauf von Unternehmen von 2014 auf 2015 um 25 Prozent gestiegen ist [2], zeigen auf, dass im B2B noch keine Sättigung an traditionellen Online-Handelskonzepten eingetreten ist. Auch unsere eigenen Erfahrungen der vergangenen Jahre zeigen, dass der B2B in aller Regel erst damit beginnt, neben den etablierten Vertriebswegen einen zusätzlichen Online-Kanal aufzubauen. In einem Vertriebsumfeld, das stark von der Person des Vertrieblers, von Provisionsmodellen und gewachsenen Vertriebsstrukturen geprägt ist, kann er eben häufig lediglich ein Zusatz sein. Mittel- und langfristig, spätestens wenn die Millennials an Entscheidungspositionen aufrücken, ist er aber ein Motor für die Entwicklung moderner, digitaler und leistungsfähiger Vertriebsmodelle.

Blick hinter die Kulissen

Im B2B E-Commerce zeigt sich aber schon heute die hohe Reife und Leistungsfähigkeit der E-Commerce Technologien – und auch der Agenturen, die ihn in die Unternehmensprozesse integrieren. Schaut man sich die B2B-Plattformen und ihre Funktionen genauer an, erkennt man, wie tief und umfassend sie in die IT-Landschaft der Unternehmen eingebunden sind. Sie interagieren mit ERP-, CRM- und PIM-Systemen, ermöglichen über Webservices die Anbindung unterschiedlichster Dienste von Drittanbietern, erlauben die Darstellung und Verarbeitung komplexester kundenspezifischer Preismodelle, übertragen automatisiert nach kundenindividuellen Bedürfnissen erstellte Bestelllisten in ein vom Anbietersystem verarbeitbares Format oder bieten nach Nutzerrechten angepasste Oberflächen und Sortimente. Der B2B E-Commerce ermöglicht damit heute schon weitreichende Personalisierungen, ein Thema, welches das digitale Endkundengeschäft gerade erst für sich entdeckt.

Der Point of Interest wird Point of Sale

Zurück ins B2C-Geschäft. Auf dem Weg zu einem Omni-Commerce sind wir momentan auf der Entwicklungsstufe des Omnichannels angekommen. Der Kunde kann Leistungen über eine Vielzahl von mehr oder minder erfolgreich miteinander verknüpften Kanälen beziehen. Ein Omni-Commerce ist im Gegensatz zum Omnichannel aber nicht ein strategisches Absatzmodell, das einige zentrale Vertriebswege durch digitale Services für besondere Nutzungsszenarien verlängert, zum Beispiel den Online-Shop durch einen Click-to-Shop Button in YouTube Videos integriert. Omni-Commerce ist eher ein Verständnis von Kundeninteraktion. Wollen Händler den Kunden dazu bringen, dass er auf sie zukommt, dass er nach ihren Regeln spielt? Oder wollen sie den individuellen Erwartungen des Kunden entsprechen? Der erste Weg führt mit der Zeit sicherlich ins Abseits. Denn Kunden verfügen heute über eine viel größere Autonomie gegenüber dem einzelnen Händler. Dank Online-Handel und Smartphone bietet sich dem Kunden immer und überall eine Möglichkeit, ein Angebot zu finden. Er lebt in der Gewissheit, dass sobald der Wunsch zum Kauf geweckt ist, er auch befriedigt werden kann. Der Point of Interest ist damit gleichzeitig auch der Point of Sale. Sollten die Kundenerwartungen an diesem Punkt aber enttäuscht werden … nun, die Konkurrenz ist nur wenige Klicks entfernt.

Neue Entscheidungskriterien

Aus diesem Grund beschreibt Omni-Commerce eben viel mehr als die permanente Verfügbarkeit. Konsumenten lassen sich beim Kauf nicht nur vom Angebot leiten, sondern auch vom Komfort. Beim Komfort wird das Thema Zeit immer wichtiger. Im Idealfall kann der Kunde genau in dem Moment kaufen, in dem etwas das Kaufverlangen geweckt hat. Von der Kaufentscheidung bis zum Ziel kann es aber auch in Zeiten des Smartphones ein weiter Weg sein.

Point-of-Annoyance


Ein Beispiel: Was tun, wenn man Samstagsabends merkt, dass man für den kommenden Dienstag einen neuen Anzug benötigt, da die alten gerade in der Reinigung sind, und keine Zeit für eine abendliche Shoppingtour mehr bleibt? Die Alternative zu Feierabendverkehr, Parkplatzsuche und kurzen Öffnungszeiten ist der Online-Handel, aber da die Zeit knapp ist, bleiben hier nur Anbieter, die einen Expressversand offerieren. Da erfahrungsgemäß nicht jeder Anzug auf Anhieb sitzt, muss man gleich mehrere bestellen. Bis die zueinander passenden Kombinationen aus Anzug, Hemd und Krawatte ausgewählt und bestellt sind, vergeht einige Zeit. Der eine Artikel ist in der Größe nicht lieferbar, der andere erst in vier Werktagen. Das Angebot wird von Minute zu Minute kleiner. Wären die Öffnungszeiten nicht gewesen, man hätte ebenso gut im Schritttempo ins nächste Einkaufszentrum fahren
können. Wenn jetzt noch die bestellten Kleidungsstücke nicht wie versprochen am Montag geliefert werden, wurde aus dem Point-of-Interest / Point-of-Sale ein Point-of-Annoyance. Beim Omni-Commerce hingegen werden alle Aspekte wie Beschaffung,
Logistik, Präsentation, Bestellung, Versand, Retouren und dergleichen als Service für den Kunden begriffen und möglichst ganz auf ihn ausgerichtet. Dass die Fülle an Touchpoints erhalten bleibt und ein Tracking über alle Touchpoints realisiert wird, ist obligatorisch (dazu aber mehr im Beitrag von add2, Seite 38-42). Zwar bleibt „Omni“ natürlich ein unerreichbares Ideal. Das Ziel ist es aber, dem Kunden so weit wie möglich entgegenzukommen und die kostbare Ressource Zeit zu schonen. Im obigen Beispiel wäre die Kombination aus Curated Shopping wie bei Outfittery und der Leistungsfähigkeit des Amazon Prime Dienstes die beste Lösung.

Im Future-Commerce steckt leistungsfähiger E-Commerce


Wirtschaftlich lässt sich ein solches Konzept aber nur umsetzen, wenn sich ein individuelles Set an Touchpoints und Services einfach zusammenstellen und jederzeit wieder ändern lässt. Dem E-Commerce kommt dabei eine doppelte Rolle zu. Technologisch bietet er eine Plattform, die sowohl die Ausgabe in ein Frontend ermöglicht – was nicht zwingend der Shop sein muss – als auch die Transaktionsprozesse im Handel managt (s. Abb. 1). Bei modernen E-Commerce-Systemen ist diese Trennung zwischen Frontend und Backendprozessen, zwischen Ausgabe und Geschäftslogikebene, sehr eindeutig und kann sogar über zwei unterschiedliche Systeme realisiert sein. Hinzu kommt eine optimale Verbindbarkeit mit digitalen Systemen und Services Dritter. Vereinfacht gesagt, sind moderne E-Commerce-Plattformen in der Lage, sowohl die „Inhalte“ für unterschiedlichste Kanäle und Touchpoints auszuspielen (Shops, mobile Endgeräte, Kassensysteme, Verkaufsschalter, Medien) als auch umgekehrt die hier angestoßenen Transaktionen problemlos zu verarbeiten und entsprechende Prozesse in anderen Systeme wie ERP, CRM, Payment usw. anzustoßen. Das einzige was noch fehlt, ist die Bereitschaft von „Frontendanbietern“ wie Publishern, Social Media Plattformen oder auch der Industrie überall dort, wo Kunden aktiv sind, Shopping-Funktionen zu erlauben. Denn aus Perspektive des E-Commerce ist es egal, ob über ein Shopfrontend, ein YouTube-Video oder eine der letzten Litfaßsäulen geshoppt wird. Als Branche stehen wir vor der Aufgabe, das Potenzial des E-Commerce als zentrale Plattform für alle Handelsprozesse zu begreifen, unser Mindset entsprechend anzupassen und unseren Kunden zu verdeutlichen, dass es schon mittelfristig keine Entscheidung mehr zwischen Online- und Offline-Welt geben kann. Digitaler Handel, E-Commerce ist überall und immer.

Dieser Artikel ist in den „Zukunftsthemen im E-Commerce 2016“ der E-Commerce-Agentur netz98 erschienen. Das komplette Fachmagazin kann unter www.zukunftsthemen-im-ecommerce.de heruntergeladen werden.


[1] www.ecckoeln.de/PDFs/2015/IFH_Studie_Otto_2_webpdf.pdf
[2] ec.europa.eu/eurostat/tgm/table.do?tab=table&init=1&language=de&pcode=tin00112&plugin=1