print logo

Wikifizierung und das neue Schmarotzertum

Gefahr eines dummen Kollektivismus im Internet
marketing-BÖRSE | 04.07.2006
München/Lindau, www.ne-na.de - Eine Grundüberzeugung der Wikiwelt ist es, dass im Verlauf des kollektiven kreativen Prozesses jedes nur erdenkliche Problem, das im Wiki auftaucht, Stück für Stück korrigiert werden wird. „Das entspricht dem unumstößlichen Vertrauen, das Ultraliberale in die Unfehlbarkeit des Marktes und Ultralinke in die Gerechtigkeit von Konsensprozessen haben. In all diesen Fällen waren die Ergebnisse bisher eher fragwürdig. Dazu kommt, dass Faktentreue allein noch keinen guten Text ausmacht. Ein Text muss mehr sein als eine Ansammlung fehlerfreier Referenzen, und zwar Ausdruck von Persönlichkeit“, schreibt der Computervisionär Jaron Lanier in einem Beitrag für die Süddeutsche Zeitung http://www.sueddeutsche.de. Wikipedia sei allerdings nicht der einzige Fetisch für diesen stumpfen Kollektivismus. „Im Internet gibt es einen rasenden Wettkampf um die Position der ultimativen Meta-Seite. Jeder will das allerhöchste aller Aggregate sein, dem sich sämtliche andere Seiten unterordnen müssen“, so Lanier.



In den vergangenen zwei Jahren sei ein Trend erkennbar, jede Spur menschlicher Einflussnahme im Internet zu entfernen und den Eindruck entstehen zu lassen, dass die Inhalte aus dem Netz selbst kommen, als spräche das Web wie ein überirdisches Orakel zu uns. „Das ist der Punkt, an dem die Nutzung des Internets in den Wahnsinn abgleitet. Kevin Kelly, Gründer der Zeitschrift Wired, der die Webseite ‚Cool Tools’ betreibt, hat lange über das nachgedacht, was er den ‚Hive Mind’ nennt, den Schwarmgeist. Neulich besprach Kelly einige ‚Konsenswebfilter’ wie ‚Digg’, ‚Reddit’ und ‚Popur’", die täglich Material aus einer Unzahl anderer Seiten zusammenstellen. Da gibt es keine Person mehr, die das Material auswählt, nur einen Algorithmus“, führt Lanier weiter aus. Kevin Kelly komme zu dem Schluss, dass solche Seiten die beste Methode seien, um den Schwarmgeist zu beobachten, der fast immer dumm und langweilig sei. Der wahre Wert des Internets bestehe darin, dass es Menschen miteinander verbindet. „Wenn wir anfangen zu glauben, dass das Netz ein eigenständiges Wesen darstellt, reduzieren wir diese Menschen zur Wertlosigkeit und uns selbst zu Idioten“, warnt Lanier. Erschwerend komme hinzu, dass es für Menschen, die schreiben und denken, keine neuen Geschäftsmodelle gebe.



Nach Auffassung des Internet-Experten Michael Sander vom Lindauer Beratungshaus Terra Consulting Partners http://terraconsult.de weist Lanier mit aller Deutlichkeit und Schärfe auf einen Konflikt und Trend bei der Entwicklung der Internet-Nutzung hin, der in der Breite noch kaum wahrgenommen worden sei. „Bislang wurde völlig unkritisch unterstellt, dass das Internet eine segensreiche Erfindung ist. Die jetzt einsetzende Kollektivismus-Diskussion zeigt aber auch die ganz realistischen Gefahren auf. So kann sich die Wikifizierung zu einem neuen Schmarotzertum auswachsen. Inhalte anderer Autoren werden zusammengefügt, anonymisiert veröffentlicht und verwendet. Da dies ohne finanzielle Abgeltung geschieht, werden wertvolle Inhalte durch diesen Prozess wertlos gemacht“, kritisiert Sander. Die Autoren derartiger Qualitätsangebote könnten dann nur mit Rückzug reagieren, da ihre geistige Arbeit keinen materiellen Verdienst mehr erbringe.



„Ein wenig erinnert dieser Prozess an den langen Weg der Umweltverschmutzung eines Gewässers. Es dauert eine ganze Weile bis einem See durch ständige Verschmutzung soviel Sauerstoff entzogen wird bis er umkippt. Dann ist dieser See allerdings auch unwiederbringlich tot. Dies könnte in einigen Jahren auch im Internet stattfinden, wenn die Geistreichen ihren Geist einfach nicht mehr der Öffentlichkeit zur Verfügung stellen. Im Internet würde dann nur noch kollektiver Müll erscheinen“, so Sander.

Quelle:
Online-Nachrichtendienst, NeueNachricht, www.ne-na.de, medienbüro.sohn, Ettighoffer Str. 26 A, 53123 Bonn, oder Fax: 0228 - 620 44 75