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Ganz schön alt: Kongresse in unserer neuen Businesswelt

Topdown-Gehabe und reine Frontalbeschallung sind out. In Hinblick auf Tagungen und Kongressen hat sich dies aber bislang nur selten herumgesprochen.
Anne M. Schüller | 13.05.2013
Ich bin als Speaker regelmäßig auf Symposien und Conventions unterwegs, das ist meine Berufung. Und was erlebe ich meistens immer noch dort? Von hoher Bühne herab gibt‘s Frontalbeschallung. Die TeilnehmerInnen sitzen brav in Reih und Glied und harren mal mehr, mal weniger erwartungsfroh der Dinge, die da kommen mögen:

• Smarte Herren in Anzug und enger Weste (= Panzer)
• stehen hinter Rednerpulten (= Schutzschild)
• und lesen ihre Reden von Manuskripten ab (= Verkündung).
• Mit Laserpointern (=Waffe) beschießen sie Präsentationen,
• die ab der dritten Reihe keiner mehr lesen kann (= egal!).
• Sie reden über Schlachten und glorreiche Siege (= wir Helden).
• und die mitgebrachte Sekretärin (= Dienstbote) klickt dazu
• über 100 vollgestopfte Slides mit Zahlen, Daten und Fakten.

Insgesamt bleibt vieles an der Oberfläche, das meiste wird für den schönen Schein produziert und hinterlässt unberührte Zuhörer, die in der Passivität verharren. Und am nächsten Tag ist alles wie immer.

Wie Kongress 3.0 funktioniert

Kongress 3.0? Da stehen lockere Typen - männlich und weiblich - und erzählen darüber, was wirklich in ihren Unternehmen Sache ist, was die Highlights und wo die Knackpunkte sind. Rednerpult und Manuskript brauchen sie nicht. Sie sind auf Augenhöhe mit dem Publikum. Und natürlich auch dialogbereit. Denn noch während der Redner wertvolle Erkenntnisse teilt, haben die Zuhörer via Mobilgerät die interessantesten Aussagen bereits online gecheckt.

So können sie mitdiskutieren und sinnvolle Fragen stellen. An einer Twitterwand kann man live nachverfolgen, was der Saal von all dem dann hält. Sofortiges Feedback ist garantiert – und der Moderator kann bei Bedarf ajustieren. Mithilfe von Live-Voting-Geräten werden Mehrheitsmeinungen abgefragt und bisweilen sogar unmittelbare Entscheidungen herbeigeführt.

Illustratoren begleiten das Geschehen und malen ein visuelles Protokoll, das außer den Fakten auch Emotionen enthält: pointierte Aussagen, leise Töne, Zwischenfälle, Heiterkeit. Ein ‚Livestream-Video‘ sendet alles an die Daheimgebliebenen. Und im Unternehmensblog wird zeitnah das Ganze bereichert. So lassen sich neue Ideen gemeinsam entwickeln und vorantreiben. Die Lust am Umsetzen-wollen ergibt sich dann auch fast wie von selbst. Bei den althergebrachten Verkündungsprogammen hingegen bleibt alles ganz steif und im Müssen.

Wie sich BarCamps organisieren

Selbst Großgruppen-Anlässe lassen sich zu produktiven Mitmach-Events umgestalten, indem man zum Beispiel ein BarCamp draus macht. BarCamps sind Konferenzen ohne Tagungsplan und Rednerliste. Nach dem Motto ‚es gibt keine Zuschauer, nur Teilnehmer‘ werden die Themen von den Anwesenden mehr oder weniger spontan selbst organisiert.

Charakteristisch für diese Veranstaltungsform – die manchmal auch als Unkonferenz bezeichnet wird - sind die Auflösung von Hierarchien und Abteilungsgrenzen, ein fehlendes Detailprogramm, der ungehinderte Wissensaustausch und die freie Gestaltung. Per Abstimmung wird entschieden, welche vorgeschlagenen Themen interessant sind und weiter bearbeitet werden sollen.

Jeder Anwesende, gern auch Teilgeber genannt, kann mal impulsgebender Sprecher und mal interessierter Zuhörer sein. Je hochwertiger und konstruktiver der Input, desto qualitativer ist dann auch der Output. Der Aktivitätsgrad ist hoch, das Engagement umfassend, und brauchbare neue Ideen entstehen fast wie von selbst. Vor allem aber: Die gravierendsten Bremsklötze, nämlich Hierarchie- und Abteilungsfilter, werden auf diese Weise endlich aus dem Weg geräumt.

Für die Oberen bedeutet all dies nun Macht- und Kontrollverlust. Indem die Verantwortung an die ‚Weisheit der Vielen‘ abgegeben wird, kann das Ergebnis ja in völlig unvorhersehbare Richtungen gehen. Doch insgesamt sind die Chancen weit größer als das Risiko. Denn die anwesenden Mitarbeiter gehen mit einem derartigen Vertrauensvorschuss meist sehr sorgfältig um.

Beispiele aus der Praxis

Unter Bloggern sind Barcamps schon seit Jahren sehr populär. Eines der größten derartigen Events im deutschsprachigen Raum ist die re:publica. Anfang Mai luden die Veranstalter schon zum siebten Mal nach Berlin ein, um mit 5.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern das digitale Leben zu diskutieren und sich auszutauschen. Und auch, um zu feiern.

Aber auch traditionelle Organisationen experimentieren mit solchen Veranstaltungsformen. Unter dem Titel ‚Kirche 2.0‘ wurden bereits mehrere BarCamps organisiert. Dabei ging es um kirchliche Sinnangebote im Social Web. Fragestellungen waren unter anderem die: „Wie können Gemeinden das Web 2.0 nutzen? Was kann das interaktive Internet für die kirchliche Arbeit bedeuten? Wie sehen religiöse Sinnangebote online aus?“

Ich selbst schlage, um die Touchpoints eines Unternehmens zu optimieren, heute fast nur noch Großgruppen-Veranstaltungen mit 50 bis 100 Teilnehmern vor. Die so lange gelebte Praxis, gemeinsam mit Unternehmensberatern im ‚stillen Kämmerlein‘ Konzepte auszuhecken, um sie dann nach unten durchzudrücken, führt nicht nur zu Unlust, sondern oft auch zum Flop.

Das ‚Wollen‘ der Mitarbeiter erreicht man vielmehr immer dann am besten, wenn sie freiwillig sagen, sie könnten sich vorstellen, etwas in Zukunft so und so zu machen. Begeisterung für die Sache wird auf diesem Weg gleich mitgeliefert. Und wichtiger noch: Die geplanten Maßnahmen werden dann auch engagiert umgesetzt, denn sie wurden in Eigenregie entwickelt – und nicht von Oben vorgegeben. Am Ende entsteht dann der ‚Mein-Baby-Effekt‘. Und sein Baby lässt man bekanntlich nicht im Stich. Weitere Informationen auf www.touchpoint-management.de


Das Buch zum Thema

Anne M. Schüller: Touchpoints
Auf Tuchfühlung mit dem Kunden von heute
Managementstrategien für unsere neue Businesswelt
Mit einem Vorwort von Prof. Dr. Gunter Dueck
Gabal, 3. aktualisierte Auflage, 350 S., 29,90 Euro, 47.90 CHF
ISBN: 978-3-86936-330-1
Ausgezeichnet als Mittelstandsbuch des Jahres und mit dem
Deutschen Trainerbuchpreis 2012


Das Hörbuch zum Thema

Anne M. Schüller: Touchpoints
Auf Tuchfühlung mit dem Kunden von heute
Managementstrategien für unsere neue Businesswelt
ungekürzte Hörbuchfassung, 8 CDs
ISBN 978-3-86936-501-5, € 49,90 / CHF 62.50


Die Autorin

Anne M. Schüller ist Managementdenker, Keynote-Speaker, zehnfache Buch- und Bestsellerautorin und Businesscoach. Die Diplom-Betriebswirtin gilt als Europas führende Expertin für Loyalitätsmarketing und ein kundenfokussiertes Management. Sie zählt zu den gefragtesten Referenten im deutschsprachigen Raum. Sie ist Gastdozentin an mehreren Hochschulen. Wenn es um das Thema Kunde geht, gehört sie zu den meistzitierten Experten. Zu ihrem Kundenkreis zählt die Elite der deutschen, österreichischen und schweizerischen Wirtschaft. Weitere Informationen: www.anneschueller.de