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Was geht mich fremdes Elend an? - Warum es im Netz an Respekt mangelt

Wer sich noch nie über Respektlosigkeit im Internet geärgert hat, der ist wahrscheinlich gar nicht online.
René Borbonus | 13.08.2015
Das Internet kann ein Instrument der Meinungsfreiheit sein. Doch dieser Segen geht mit einem Fluch einher: Das Medium verändert die Art, wie wir miteinander kommunizieren, auf vielfältige Weise – und nicht nur zum Guten.
Die Grünen gehören zu den Parteien, die sich für ein freies Internet stark machen. Welche Blüten das „Recht auf die freie Meinungsäußerung“ treiben kann, davon konnte sich im Juni 2013 ausgerechnet die damalige Grünen-Vorsitzende Claudia Roth persönlich überzeugen. In Istanbul hatte sie sich unter Tausende türkische Demonstranten gemischt, die auf dem Taksim-Platz und im nahegelegenen Gezi-Park friedlich gegen das Erdogan-Regime demonstrierten. Bis die Polizei begann, Tränengas-Granaten in den Park zu schießen. Claudia Roth bekam eine Ladung Gas ab, wurde verletzt und musste in einem nahegelegenen Hotel behandelt werden, das seine Türen öffnete, um den Demonstranten Schutz zu bieten.
Ein Foto von der verletzten Politikerin machte schnell die Runde bei Twitter und in den Online-Medien. Die Art und Weise, wie Teile der Internetgemeinde mit der Nachricht umgingen, war an Respektlosigkeit nicht mehr zu überbieten. Zahllose Nutzer nahmen die Gelegenheit wahr, ihrem politischen Unmut über die Grünen freie Bahn zu lassen. Unter dem Foto der vom Tränengas gezeichneten und sichtlich mitgenommenen Claudia Roth erschienen Kommentare wie „Gut so, immer drauf!“, „soll sie gleich dort bleiben“, „Frau Roth, wenn Sie es richtig gemacht hätten, wären Sie erschossen worden“, „schmierige PR-Aktion“ – und so weiter, und so fort. Die meisten der Kommentare wurden anonym verfasst.
Claudia Roth ist natürlich nicht die Einzige, der es so ergangen ist. Es ist nur eines von zahllosen Beispielen für eine erschreckende Entwicklung unserer Kommunikationsgewohnheiten: In welcher Sprache politische und gesellschaftliche Diskurse in den Onlineforen und -Medien geführt werden, ist zum Fürchten. Wer sich noch nie über die grassierende Respektlosigkeit im Netz geärgert hat, der hat die Segnungen der virtuellen Welt wahrscheinlich noch gar nicht für sich in Anspruch genommen. Weil das aber eine unrealistische Strategie für die Zukunft ist, müssen wir uns fragen: Warum verleitet das Medium Internet Menschen dazu, die simpelsten Regeln der Kommunikation zu vergessen? Und wie schützen wir uns vor den anonymen Trollen?

Warum Anonymität und Respekt einander ausschließen
Das Unbehagen, das die Netzkommunikation in uns auslöst, resultiert aus ihrer Anonymität. Respekt funktioniert in der Anonymität nicht, denn er ist – genauso wie das Vertrauen – an den Namen gebunden. Anonymität und Respekt sind also nicht miteinander vereinbar. Genau deshalb verläuft die Kommunikation im Netz so oft respektlos bis verletzend. Längst ist diese Entwicklung nicht mehr auf das Internet beschränkt, denn ein neues Massenmedium verändert immer auch die Art, wie wir als Gesellschaft miteinander reden. Das Internet ist ein Freiheitsmedium – und es ist auch der Ursprung einer Kultur der Indiskretion und Respektlosigkeit, also des Missbrauchs von (Rede-) Freiheit.
Viele der respektlosen Auswüchse zum Beispiel in Kommentaren oder Rezensionen verweisen auf einen weiteren kritischen Aspekt der Netzkommunikation: In vielen Fällen handelt es sich um Affektkommunikation. Wer erzürnt einen Artikel liest oder sich über eine mangelhafte Lieferung aus einem Online-Shop aufregt, denkt oft nicht nach, bevor er seinen Kommentar oder seine Rezension verfasst. Das Internet bietet jedem die Möglichkeit, seinem persönlichen Frust und seiner Wut unmittelbar Luft zu machen.
Dass wir uns über anonyme Angriffe ärgern, liegt daran, dass sie der Grundbedingung von Kommunikation widersprechen: Wir begreifen und praktizieren Kommunikation von Geburt an als persönlichen Austausch. Wenn Sie in einer Diskussionsrunde permanent von jemandem persönlich beleidigt würden, der eine Papiertüte über dem Kopf trägt, dann würden Sie nicht lange mitspielen. Sie wollen nicht mit jemanden reden, der seine Identität verbirgt. Beizeiten würden Sie den Unhold mindestens auffordern, sich zu erkennen zu geben.
Das können Sie online zwar auch tun, eingehen wird der Troll auf Ihre Bitte jedoch in den seltensten Fällen. Ohne die „Tüte“, sein Online-Pseudonym, würde er nämlich nie so mit Ihnen reden. Eher würde er gar nicht mit Ihnen reden. Stattdessen würde er seinem gesunden Instinkt folgen und die Distanz wahren.
Genau da liegt der Hase im Pfeffer: Ohne gesunde Distanz wird das Prinzip Respekt in der Kommunikation ausgehebelt. Respekt, abgeleitet vom lateinischen respectare, heißt wörtlich übersetzt „zurückblicken“, hat also mit Rücksicht zu tun. Sein Gegenstück ist das Spektakel, von spectare, das einem voyeuristischen Hinsehen entspricht. Dem spectare fehlt die distanzierte Rücksicht des respectare, argumentiert Byung-Chul Han.
Dass wir in der direkten Kommunikation von Angesicht zu Angesicht – oder doch zumindest: von bekanntem Absender zu bekanntem Empfänger – in der Regel den Respekt wahren, bedeutet also, dass wir Rücksicht auf die Empfindungen des Empfängers nehmen und seine Reaktion antizipieren. Immerhin sind wir verantwortlich für die Gefühle, die wir bei Anderen auslösen. Anonyme Kommunikation dagegen entbindet uns von dieser Verantwortung, wenn wir sie nicht annehmen wollen: Wir können Schaden anrichten, ohne dass er auf uns zurückgeführt werden könnte. Wir können – spectare – dabei zusehen, wie der Andere leidet, ohne mit dem Echo leben zu müssen. So können wir in den Nahkampf gehen, ohne uns selbst die Finger schmutzig zu machen: indem wir die Distanz aufgeben, die wir im persönlichen Kontakt tunlichst wahren würden, schon um im Gegenzug keins auf die Mütze zu bekommen.
Wir können also auf den Respekt, die wichtigste Regel des menschlichen Miteinanders, einfach verzichten – ohne selbst Respektlosigkeit ertragen zu müssen. Ganz nach dem Motto: Was geht mich fremdes Elend an? Die distanzlose Darstellung des Privatesten in den Medien suggeriert uns, dass das okay wäre. An jeder Ecke rücken uns heute Kameras auf die Pelle. Abendfüllende Programme leben davon, Menschen vorzuführen und aufs Korn zu nehmen. Im Netz leben viele aus, was sie im Fernsehen nur beobachten können: Die Macht des Wortes – ohne die Verantwortung für die Konsequenzen.
Der koreanische Philosoph und Kulturwissenschaftler Byung-Chul Han schreibt in seinem Buch Im Schwarm, in dem er sich mit den Folgen der Netzkommunikation beschäftigt: „Eine Gesellschaft ohne Respekt, ohne Pathos der Distanz führt in die Skandalgesellschaft.“

Persönlichkeitsrechte als Deckmantel der Respektlosigkeit
Für viele Zwecke im Netz macht Anonymität durchaus Sinn: Wenn sich Opfer von Gewaltverbrechen, Kranke, politisch Verfolgte oder andere Gruppen untereinander austauschen, die mit gutem Grund ihre Identität schützen, erfüllt die Online-Kommunikation tatsächlich auch im anonymen Austausch ein wichtiges Freiheitsrecht.
Die Argumente, derer sich viele Verfechter der Anonymität im Netz bedienen, sind jedoch vielfältig. Viele davon haben mit dem Schutz der Privatsphäre rein gar nichts zu tun. Die aktuelle Diskussion um den Datenschutz im Netz spielt leider auch jenen in die Hände, die sich ein Recht auf Respektlosigkeit erkämpfen wollen. In Konstellationen, wo es um persönliches und zugleich öffentliches Feedback geht – wie bei Rezensionen oder Kommentaren – verstößt Anonymität gegen die Grundregeln der Kommunikation. Nicht umsonst wurden anonym verfasste Leserbriefe an Redaktionen früher nicht veröffentlicht, sondern wanderten direkt in den Papierkorb. Heute dagegen können Konkurrenten unter Pseudonym gegenseitig ihre Produkte verreißen, ohne dass jemand das verhindern könnte.
Niemand möchte ernsthaft widersprechen, wenn es heißt, der Schutz der eigenen Identität und der persönlichen Daten seien Grundrechte. Genau die gleichen unverbrüchlichen Rechte sprechen jedoch auch für eine offene, persönliche Kommunikation im Netz: Den Einzelnen im Gegenzug ungeschützt den Angriffen einer anonymen Masse auszusetzen, verstößt schon gegen das wichtigste aller Menschenrechte, nämlich die Menschenwürde. Wir schulden es einander, respektvoll – also auch: persönlich – miteinander umzugehen.
Immerhin haben wir keinen Anlass, anonym aufeinander loszugehen – jedenfalls diejenigen von uns, die in einer demokratischen Gesellschaft leben. Bei uns herrscht Meinungsfreiheit. Wer zu dem steht, was er zu sagen hat, kann es offen tun. Wer der eigenen Meinung dagegen nicht vertraut, hat das Recht, sie für sich zu behalten. Niemand muss sich äußern. Wer nicht bereit ist, die Konsequenzen dessen, was er sagt, zu tragen, kann der Gemeinschaft einen großen Dienst erweisen, indem er die Klappe hält. Erreichen wird er mit anonymen Äußerungen nämlich ohnehin nichts – abgesehen von Verletzungen. Wenn sich die anonymen Trolle das vor jedem Kommentar im Netz einmal wirklich bewusst machen würden, stünde es besser um die Netzkultur.
Nicht Anonymität schützt unsere Persönlichkeitsrechte, sondern Respekt.
Und, mal ehrlich: Kein Hightech-Krimineller, kein Internetprovider, kein Geheimdienst dieser Welt würde daran scheitern, ein Pseudonym zu knacken, wenn er es darauf anlegte. Spätestens der NSA-Skandal hat uns das gelehrt.

Ausstieg ist auch keine Lösung
Der Amerikaner Blair McMillan und seine Familie haben im April 2013 ein Projekt gestartet, in dem sie frei sind von den Nachteilen der digitalen Kultur: Sie leben wie 1986, McMillans Geburtsjahr. Alle internetfähigen Geräte haben sie aus dem Haus verbannt, nicht einmal Handys verwenden das Paar und seine beiden kleinen Kinder – nur das Festnetztelefon gibt es noch. Ein Jahr lang wollen sie so leben. Nach seinen bisherigen Erfahrungen mit dem vernetzungsfreien Lebensstil befragt, äußerte McMillan gegenüber Spiegel Online: „Man findet heraus, wer die guten Freunde sind. Die rufen weiterhin an.“
In diesem Satz steckt viel Wahrheit, finde ich. Kein Internet-Troll würde sich die Mühe machen, Ihre Festnetznummer herauszufinden, um Sie zu beschimpfen. Ohne anonyme Kommunikation wären wir frei von den Gefahren, die damit einhergehen. Ein interessanter Ansatz.
Trotzdem kommt der Totalausstieg für die wenigsten von uns in Frage – mal ganz abgesehen davon, dass es keinen Sinn macht, auf Kommunikationswege zu verzichten, die großen Nutzen bringen, wenn sie bewusst eingesetzt werden. Immerhin profitieren wir mehr von den Möglichkeiten des Digitalen, als wir darunter leiden. Wir wollen in Kontakt bleiben mit Freunden, Kollegen, Kunden. Wir wollen sie teilhaben lassen an unseren Gedanken, Ideen und Erlebnissen. Und wir wollen mit ihnen interagieren können – solange wir uns aussuchen können mit wem, wann und in welcher Form.
Die Mehrzahl unserer Kontakte nutzt heute die sozialen Netzwerke. Warum sollten wir auf den Kontakt mit all denen verzichten, die auch im Netz respektvoll kommunizieren, nur weil andere es nicht tun?
Der Ausstieg kann nicht die Lösung sein. Was aber dann?

Respekt gibt’s auch bei Amazon
Eigentlich ist der Weg zu einer respektvollen Kommunikation im Netz ganz einfach. Er funktioniert letztlich genauso wie in der Offline-Kommunikation: Wer Respekt bekommen will, muss ihn zeigen. Wie aber soll man einem anonymen Troll, der auf Ärger aus ist, Respekt demonstrieren? Das geht nicht. Und deshalb ist die erste und wichtigste Maßnahme nicht der Netzkommunikation, sondern der anonymen Kommunikation zu entsagen. Anonym ist gleichbedeutend mit respektlos.
Auf mehrere schlechte Erfahrungen bei Amazon habe ich persönlich mit einer einfachen Strategie reagiert: Ich lese anonyme Rezensionen für meine Bücher nicht mehr. Respekt gibt’s nämlich auch bei Amazon & Co: Jeder hat die Möglichkeit, Rezensionen unter seinem Klarnamen zu veröffentlichen. Inzwischen zeigt das System sogar an, ob jemand das Buch überhaupt gekauft hat oder nur Stimmung machen möchte. Generell ignoriere ich jegliche anonyme Ansprache im Netz. Ich rede nicht mehr mit Leuten, die eine Tüte überm Kopf tragen. Warum sollte ich auch?
Damit bin ich nicht allein. FC-Bayern-Kapitän Philipp Lahm warnte in einem Interview seine Kollegen vor der Lektüre von Leserkommentaren im Internet: „Da kann jeder jeden beleidigen, vollkommen anonym. Die Note im Sportteil schaue ich mir an. Aber die Kommentare unter den Berichten? Nie lesen! Ich rate den jungen Spielern, dass sie besser dran sind, je weniger sie über sich lesen.“
Auch Sie können anonymer Kommunikation effektiv aus dem Weg gehen, wenn Sie sich dafür entscheiden. Lesen Sie keine Rezensionen, die nicht unter Klarnamen verfasst wurden. Gehen Sie nicht auf Pöbeleien in Form anonymer Kommentare ein. Meiden Sie die Forenbeiträge unter meinungsbetonten journalistischen Artikeln, deren Verfasser fast nie erkennbar sind. Stellen Sie bei Facebook und Co. Ihre Präferenzen so ein, dass nur Ihre bestätigten Kontakte auf Ihrem Profil posten können. Verkürzt gesagt: Lassen Sie Hoppelhäschen83 und Terminator_Rüdersheim nicht in Ihr Leben.
Noch wichtiger als das, was Sie lassen können, ist aber das, was Sie dazu beitragen können, die Kommunikation im Netz ein Stück respektvoller zu machen. Wenn Sie über grobe Verstöße in Internetforen stolpern, handeln Sie im Sinne der Allgemeinheit: Fast alle Plattformen bieten eine Möglichkeit, Verstöße gegen die guten Sitten zu melden. Lehnen Sie anonyme Kontaktaufnahmen grundsätzlich begründet ab. Vor allem aber: Kommunizieren Sie im Netz genauso respektvoll, wie Sie es auch offline tun würden. Nehmen Sie konstruktive Kritik an, und gehen Sie auf persönliche Anfragen und ernstgemeinte Anliegen ein. Auch wenn Sie mit jemandes Meinung inhaltlich nicht übereinstimmen: Widerstehen Sie der Versuchung des spectare, und halten Sie sich an das respectare. Dass derjenige nicht vor Ihnen steht, heißt nicht, dass Sie ihn nicht verletzen könnten. Fragen Sie sich immer: Würde ich demjenigen das auch ins Gesicht sagen?
Respekt ist das Schmiermittel der Gesellschaft. Jeder von uns wünscht ihn sich. Und wir bekommen ihn nur, indem wir ihn anderen zeigen. Wenn Sie sich im Netz respektvoll verhalten, dann werden andere es auch tun.

Auf einen Blick: Wie Sie sich vor Respektlosigkeit im Netz schützen können
Respekt ist in der Online-Kommunikation genauso bedeutsam wie offline. Die Anonymität hebt die rücksichtsvolle Distanz auf, die wir in unseren Worten wahren, wenn unser Gesprächspartner uns direkt gegenübersteht und identifizieren kann. Diese Distanzlosigkeit lässt die Sitten im Netz verrohen, und bedroht damit unsere Kommunikationskultur.
Weil es für das Problem der Anonymität im Netz keine einfache Lösung gibt, müssen wir uns selbst gegen die Folgen schützen und jeder unseren Teil dazu beitragen, dass es dort human zugeht. Hier noch einmal die wichtigsten Tipps, wie Sie sich vor respektlosen Zeitgenossen im Netz schützen und anderen auch online Ihren Respekt zeigen können:
• Minimieren Sie die Anonymität Ihrer Netzkommunikation: Richten Sie Ihre Accounts so ein, dass nur Ihre Kontakte Kommentare bei Ihnen posten können.
• Lassen Sie sich nichts gefallen: Machen Sie von der Möglichkeit Gebrauch, Verstöße gegen die Netiquette zu melden.
• Filtern Sie Rezensionen & Co.: Orientieren Sie sich nur an personalisierten Botschaften im Netz, deren Absender sich klar zu erkennen geben.
• Strafen Sie Trolle mit Missachtung: Nichts ärgert Giftspritzer mehr, als wenn ihre Auslassungen einfach ignoriert werden.
• Erwidern Sie Respekt mit Respekt: Gehen Sie auf ernstgemeinte Ansprachen transparenter Absender im Netz ein – auch auf kritische Kommentare.
Kommen Sie gut an!
Ihr
René Borbonus

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