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Die Krise als Wendepunkt?

Ein Blick zurück nach vorne. Undenkbares wird plötzlich möglich.
Thomas Gelmi | 02.07.2020
© freepik
 

Es hat uns alle mit voller Wucht erwischt. In einem Moment, wo viele Dinge wie der Klimawandel und andere relevante Themen bereits seit längerem mit zunehmendem Druck und mehr oder weniger Erfolg verfolgt wurden. Und dann kam Covid-19 und hat uns aus der geschäftigen „Busyness“ des Business praktisch mit einem Schlag entschleunigt und in die Ruhe gezwungen. Viele Wirtschaftszweige wurden gefühlt von Hundert auf Null abgebremst und Mitarbeiter ins Homeoffice geschickt. Für die Einen bedeutete das, plötzlich die ganze Zeit mit der Familie zusammen zu sein, für andere, sich von jetzt auf gleich ganz allein und isoliert zu fühlen.

Diese Krise als Chance zu bezeichnen, mag angesichts der Toten und der wirtschaftlichen Folgen unangebracht oder gar zynisch klingen. Und ganz sicher gibt es nichts zu beschönigen. Doch neben diesen verheerenden Auswirkungen bieten sich uns auch Möglichkeiten, unsere Zukunft von hier ausgehend bewusster zu gestalten und die zahlreichen, durchaus auch positiven Aspekte dieser Krise zu erhalten und weiterzuentwickeln. Die Situation zu einem Wendepunkt zu machen, nach dem vieles anders, vieles besser werden kann.  

Wir sitzen nicht alle im gleichen Boot

Nicht selten habe ich in den letzten Wochen die Aussage „Wir sitzen alle im gleichen Boot“ gehört. Ich denke nicht, dass das so ist. Global betrachtet befinden wir uns vielleicht alle im gleichen Sturm, aber wir sitzen bei weitem nicht im gleichen Boot. Vielmehr sind wir in ganz unterschiedlichen Booten unterwegs. Hier in Zentraleuropa sitzen wir verglichen mit anderen Orten dieser Welt wohl eher in einer Luxusjacht. Auch in dieser Jacht spürt man den Wellengang, allerdings ist das Ganze doch noch vergleichsweise komfortabel. Ein Blick auf den afrikanischen Kontinent oder nach Lateinamerika, wo vieles noch alles andere als unter Kontrolle ist, zeigt ein völlig anderes Bild. Nämlich eher das von unkontrollierten kleinen Nussschalen auf hoher See.

Wie geht es weiter?

Aktuell werden in vielen Ländern die Einschränkungen gelockert, die Wirtschaft soll und muss rasch wieder an Fahrt aufnehmen. Die Frage ist: Wohin geht es jetzt? Ich denke nicht, dass wir einfach dahin zurückkehren können, wo wir vor Mitte März 2020 standen. Zu viel ist passiert und man kann nicht zweimal in den gleichen Fluss steigen, selbst wenn man es wollte. In den letzten Wochen und Monaten haben sich zudem auch viele positive Veränderungen gezeigt, die es sich lohnt, bewusst am Leben zu erhalten. Wenn wir die Chance nutzen, die sich uns bietet.

Mehr Nähe durch Distanz

Zu den positiven, in den letzten Wochen sichtbar gewordenen Veränderungen, gehört ganz sicher die gegenseitige soziale Unterstützung. Menschen gingen für andere Menschen einkaufen und erledigten andere kleine Dienste. Nachbarschaftshilfe bekam eine ganz andere Qualität. Da hat etwas funktioniert, was vorher vielerorts nicht mehr so gut zu funktionieren schien. Wir Menschen sind dafür geschaffen, in der Sippe zu leben, uns gegenseitig zu unterstützen und füreinander zu sorgen. Im Zuge der in den letzten Jahrzehnten immer mehr grassierenden Selbstbezogenheit eine durchaus gesunde Entwicklung. Es bleibt zu hoffen, dass sie nicht nur vorübergehend ist.

Auch die physische Trennung hat in gewisser Weise mehr Nähe geschaffen. Dadurch, dass persönliche Treffen nicht mehr möglich waren und der Kontakt virtuell stattfinden musste, entstand in vielen mehr Offenheit und Nähe, sowohl in privaten als auch in geschäftlichen Beziehungen. Als hätten sie manche erst dadurch wieder zu schätzen gelernt.

Die Online Meetings aus dem Homeoffice zeigen den Gesprächspartner in dessen persönlicher Umgebung. Es werden persönliche Dinge sichtbar, die man unter anderen Gegebenheiten nicht zu sehen bekommen hätte. Das Bild an der Wand wird so plötzlich zum Gesprächsthema und das Arbeitsmeeting dadurch viel persönlicher.

Undenkbares wird plötzlich möglich

Der Lockdown im März hat gezeigt, was möglich ist. Die Situation war da: Ganze Geschäftszweige und Bereiche mussten andere Möglichkeiten finden, um zumindest ein wenig Umsatz machen zu können. Menschen arbeiteten plötzlich im Homeoffice, in Firmen wohlgemerkt, in denen so etwas zuvor »unmöglich« war. Unternehmen haben innerhalb kürzester Zeit die nötige Hardware und Software zur Verfügung gestellt, damit auch von zu Hause aus sicher gearbeitet werden kann. Und nicht wenige dieser Unternehmen haben bereits beschlossen – oder denken zumindest darüber nach – diese Arbeitsform als Option auch nach der Krise aufrechtzuerhalten. Denn sowohl die Produktivität als auch die Zufriedenheit vieler Mitarbeiter ist dadurch gestiegen.

So wurde bei einem meiner Kunden, einem grossen Pharmaunternehmen, ein komplettes Callcenter mit rund 300 Mitarbeitern in deren Homeoffice verlegt, mit erstaunlich guten Ergebnissen. Das Unternehmen nutzte die Gunst der Stunde für eine Umfrage zur Mitarbeiterzufriedenheit. Und siehe da: Die Zufriedenheit der Mitarbeiter ging sprichwörtlich durch die Decke und die Produktivität litt in keinster Weise darunter – im Gegenteil. In der Folge hat das Unternehmen beschlossen, Homeoffice als Option auch in Zukunft anzubieten. Und die Zufriedenheit der Mitarbeiter wird künftig als zusätzliches Kriterium im Performance-Management-Prozess berücksichtigt.

Produktivitätsfaktor „Happiness“

Noch immer gibt es Führungskräfte, die der Ansicht sind, dass ihre Mitarbeitenden nicht dafür bezahlt sind, Spass zu haben oder happy zu sein, sondern um ihre Arbeit zu machen und ihre Ziele zu erreichen. Oft sind es dieselben Vorgesetzten, die ein Klima psychologischer Bedrohung schaffen, in dem ständig ein latenter Stresszustand herrscht. Die Krise hat hoffentlich auch ihnen endlich die Augen dafür geöffnet, dass Mitarbeiterzufriedenheit einer der wichtigsten Produktivitätsfaktoren überhaupt ist. Der oft ins lächerliche gezogene »Kuschelkurs« ist damit jedoch nicht gemeint. Happiness in diesem Kontext steht für tiefste Zufriedenheit und Erfüllung am Arbeitsplatz.

Erfreulicherweise haben viele der Führungskräfte, mit denen ich arbeite, damit begonnen, sich bedingt durch die Situation und die virtuelle Zusammenarbeit, mehr um die Beziehungen zu ihren Mitarbeitenden und Teams zu kümmern. Viele praktizieren derzeit schon fast intuitiv einen »Command & Care« statt eines »Command & Control« Führungsstils. Wenn man seine Leute praktisch von einem Tag auf den anderen ins Homeoffice schicken muss, dann bedeutet das ein Stück weit Abgeben von Kontrolle. Wenn es dann als Führungskraft gelingt, sich um das Wohl der Mitarbeiter zu kümmern, den Menschen ihre Autonomie zu lassen, ihnen Handlungsspielraum zu geben und ihnen zu vertrauen, dann passiert das Magische:

Jemand, der sich wertgeschätzt fühlt, der spürt, dass man ihm vertraut, wird immer mehr tun, als von ihm eigentlich verlangt wird, wird immer Extrameilen gehen, wenn sie nötig sind. Der wird immer aus eigenem Antrieb das tun, was zu tun ist, weil er oder sie es tun will, und nicht weil die Anordnung von oben gegeben wurde. Dann passiert genau das, wovon alle seit Jahren reden: Empowerment, Selbstorganisation und eigenverantwortliches Handeln.

Die Führung hat es in der Hand

In den letzten Wochen hat sich gezeigt, inwieweit Führungskräfte in der Lage sind, Menschlichkeit zu demonstrieren, Kontrolle abzugeben, Handlungsspielräume zu geben und zu vertrauen. Inwieweit sie bereit sind, in Beziehungen zu investieren, diese zu erhalten und auch die Beziehungen der Mitarbeiter untereinander zu fördern. Inwieweit sie in der Lage sind, den Faktor Mensch nicht aus den Augen zu verlieren. Das sind die Führungskräfte und die Unternehmen, die nach dieser Krise die engagiertesten und loyalsten Mitarbeiter haben werden.

Jetzt haben wir die Gelegenheit, den Schwung mitzunehmen, der in den letzten Wochen und Monaten entstanden ist. Es liegt an uns, diese Gelegenheit zu nutzen.