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Marketing und Palestrinas Kompositionsregeln

Im Zuge der Digitalisierung gibt es ständig Veränderungen. Erfolgreiches Marketing erfordert jedoch mehr als nur eisernes Beachten von Regeln.
Gunter Dueck | 17.08.2020
Marketing und Palestrinas Kompositionsregeln © Freepik / ijeab
 

Palestrina war ein berühmter Komponist des 16. Jahrhunderts. Besonders seine Kirchenmusik wird heute viel gespielt. Noch berühmter aber ist er durch sein Lehrsystem für den Kontrapunkt geworden, also für die Lehre, wie man Noten setzt oder eben komponiert. Ich habe im Studium Generale einen Schein im Kontrapunkt erworben! Ich erinnere mich noch heute an einen wichtigen Satz meines Professors über diese Notensatzlehre: „Palestrinas Regeln sind so streng, dass es wirklich Mühe macht, etwas zu komponieren, was alle Regeln erfüllt. Wenn das aber gelungen ist, klingt das Stück schon mal nicht schlecht.“  Palestrina selbst komponierte sehr komplex! Er hat sich nicht so extrem an sein lehrmäßig vereinfachtes Tonsatzmodell gehalten.

Ich will Ihnen damit vor Augen halten, dass es schon einmal ganz gut ist, sich nach allen Regeln zu erkundigen, wie man erfolgreiches Marketing betreibt. Sie werden bemüht sein, alle Erfolgsfaktoren, Messgrößen, Textregeln, Tools und Apps, Management-Techniken und Verbreitungsformen zu kennen. Es ist gar nicht so einfach, alles richtig zu machen, was einem alles so geraten wird! Ja, noch schlimmer: Die erfolgskritischen Größen verschieben sich ständig im Zuge der Digitalisierung. Man muss also fast die ganze Zeit darauf verwenden, die jeweils zurzeit geltenden Regeln zu kennen. Wenn Sie aber ganz genau alles richtig machen, wenn Sie also zum Beispiel im Text das Wort Nachhaltigkeit verwendet haben, wenn Sie sichergestellt haben, dass alle Inhalte von kontrollierten Bio-Hirnen erdacht wurden, dass die KPIs dem veganen Chef gefallen und ausdrücklich im Text steht, dass Sie sich extra wegen der Kampagne Gedanken um den Kunden gemacht haben (sonst merkt der das nicht) – wenn Sie also alles richtig machen und sich auch UX, CX, Service Design per Design Thinking reingezogen haben, dann ist Ihre Kampagne schon einmal ganz gut. Wie bei Palestrina. Außerdem sind Sie kritikbefreit, weil kein Makel an Ihrer Lösung ist. Sie haben alles beachtet. Dann muss es wohl gut sein.

Ich stelle mir vor, ich leide bei Daimler darunter, dass alle sagen: „Die Software von Tesla ist sooo geil!“ Dann wende ich bei Daimler alle Regeln des Marketings an, nenne mein eigenes geiles System „Mercedes Benz User Experience“ oder für den Kunden liebevoll MBUX und stelle so etwas ins Internet:

 

“Unser übergeordnetes Ziel besteht darin, unseren Kunden ein Maximum an Komfort, Personalisierung und Annehmlichkeiten zu bieten. Ein System, das noch mehr ins Detail geht, durchdachter und individueller ist als je zuvor. Deshalb würde ich es sogar My MBUX nennen. Der Vorteil für unsere Kunden: Dank der optimierten Benutzerfreundlichkeit sparen sie Zeit und bekommen einen hohen Mehrwert. Dabei geht es um weitaus mehr als nur um Displays und Sprachsteuerung. Damit wird My MBUX zum Rückgrat oder sogar zum zentralen Gehirn des Fahrzeugs.” Sajjad Khan, Vorstandsmitglied der Mercedes-Benz AG, CASE

Dieser Beispieltext hat etwas Besonderes – er ist nach allen Regeln der Kunst gedrechselt. Er klingt gut und hat keinen Schwachpunkt. Er hat etwas von Krawattendiktion.

 

Sehen Sie: Es geht nicht darum, alle Regeln einzuhalten. Das tat der große Meister Palestrina ja auch nicht, er würde heute als „Rule Breaker“ den Konzertsaal rocken. Die Regeln verhindern, dass man Anfängerfehler begeht; sie legen Grundstrategien nahe. Aber sie garantieren eben nicht, dass das handwerkliche Kleben an ihnen ein Meisterwerk erzwingt. Das merken Sie dann im Marketing, wenn Ihre Kampagne zwar fehlerfrei war, aber nur lauen Erfolg hatte. Es liegt daran, dass sich die meisten Leute im Zuge der Digitalisierung nicht um ihr Kunstwerk kümmern, sondern nur um die Tools und Apps, eben die Werkzeuge, um Kunstwerke zu erstellen. Die Marketing-Leute besuchen Messestände, wo es alles zu bestaunen und natürlich zu kaufen gibt. In den Fachvorträgen werden dann wieder und wieder die weltweit raren Erfolgskampagnen vorgestellt (so etwa 100 von 10 Millionen), dann folgen in Kurzvorträgen nette Ideen, die man mit großer Hoffnung aufgeblasen hat („Wir sind noch am Anfang, aber wir denken...“), weil diese Vorträge gerne ohne Honorar gehalten werden. Hilfe, sag ich! Die Regeln kann man alle lernen, die Werkzeuge alle kaufen und die Meisterwerke alle bestaunen. Das alles kann jeder. Aber ein Meisterwerk selbst zu erschaffen – das ist eine andere Liga. Wie kommt man dahin? Ich sehe kaum, dass sich jemand ernsthaft mit dieser Frage befasst. Das wäre doch schon einmal ein Anfang. Sehnsucht braucht man, sagt Saint-Exupery. Wir brauchen Menschen, die es wirklich wissen wollen, sage ich. Und ich wiederhole mich immer wieder: Man muss es wollen! Wirklich wollen und nicht nur tun, weil man es eben eine Kampagne geben muss.

 

Schade, jetzt müsste man im Text umblättern. Dann hätten Sie eine Sekunde zum Nachdenken gehabt. In dieser hätten Sie mich gefragt: „Aber welche REGELN gibt es für sicheres Erreichen von Supererfolg? Da ist der Dueck wieder nicht konkret. Das diskreditiert den Text.“ Wenn Sie das denken, dann...