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Virtuell mit Open Space Online arbeiten

Die Großgruppen-Methode Open Space lebt vom persönlichen Austausch. Die Herausforderungen und Lösungsansätze für die Praxis.
Myriam Mathys | 01.02.2021
Virtuell mit Open Space Online arbeiten © Freepik
 

Ein Fachbeitrag von Myriam Mathys und Dr. Matthias zur Bonsen

Online-Meetings sind anstrengend … mehr als fünf Stunden am Tag hält keiner aus … und das auch nur mit Pausen … Solche und ähnliche Aussagen hörten wir in den vergangenen Monaten immer wieder. Für Online-Expertinnen ebenso wie für Neulinge im virtuellen Trainingsbusiness scheint klar zu sein, dass im virtuellen Raum andere Regeln gelten und sich bisher bewährte Formate nur sehr bedingt dorthin übertragen lassen. Doch dann kam der 29. Juni, der Tag, an dem wir genau dies trotz allem riskierten.

An diesem Tag moderierten wir unsere bis dahin größte Online-Open-Space-Konferenz – einen ganzen Tag lang, von morgens 9.00 Uhr bis 17.30 Uhr. Und hinterher sagten viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer, sie hätten noch nie einen so unangestrengten und inspirierenden Online-Tag erlebt. So wie die Methode Open Space Technology offline oft als große und zugleich sehr produktive Pause erlebt wird, als intensiv und regenerierend zugleich, so wurde sie – sicher mit ein paar Einschränkungen – an diesem Sommer- tag auch online erlebt.

Die Methode: Freiheit und Energie

Das hätten wir selbst als erfahrene Großgruppen- Veranstalter noch vor einem halben Jahr kaum für möglich gehalten. Vor der virusbe- dingten Zwangspause hatten wir noch keine Vorstellung davon, wie sich solche Veranstaltungen online durchführen lassen – und uns wohl auch innerlich sehr dagegen gesträubt. Doch Corona zwang uns, umzudenken, alte Gewissheiten loszulassen und neue Lösungen zu finden, um unsere Arbeit, in der die Open Space Technology (siehe Kasten S. 40) seit Jahrzehnten eine tragende Rolle spielt, fortsetzen zu können.

Während eines Open Space Meetings haben die Teilnehmenden die Freiheit, sich zu den Themen oder Workshops zu begeben, die sie am meisten interessieren. Jederzeit können sie eine Grup- pe auch wieder verlassen. Denn im Open Space gilt das sogenannte „Gesetz der zwei Füße“: Mit den eigenen Füßen wählt man, welchem Thema man sich zuwendet oder ob man auch eine Zeit lang aussetzt, und folgt dabei der ei- genen Energie. Damit kann in Open Space Meetings jede und jeder jederzeit das tun, was er oder sie wirklich tun will – was ein wichtiger Grund dafür ist, weshalb diese Meetings zugleich als effektiv und als inspirierend erlebt werden. Doch wie lässt sich diese inspirierende Freiheit nun online abbilden?

Die Herausforderungen sind inhaltlich und technisch

In Präsenzveranstaltungen ist es wichtig, dass der Begleiter oder die Begleiterin – so nennen wir die Person, die die Konferenz leitet, aber nicht im konventionellen Sinne moderiert – gerade zu Beginn den Geist ausstrahlt, der Open Space ausmacht. Er oder sie soll damit die Haltung auf die anderen ausdehnen, die den Erfolg des Treffens erst möglich macht. Sie umfasst:

- Gelassenheit,

- Vertrauen in die Gruppe,

- Zuversicht, dass das Richtige geschehen wird,

- die Fähigkeit, in Kontakt zu sein mit sich selbst und mit anderen,

- den inneren Fokus auf das gemeinsame Thema.

Diese Ausstrahlung auch im virtuellen Raum zu vermitteln, ist eine der großen Herausforderungen. Denn gerade der Fokus und das Gefühl des „in Kontakt sein“ sind für viele Menschen auf digitalem Wege schwer zu erreichen.

Hoch sind auch die technischen An- forderungen: Wie löst man es, dass die Teilnehmenden eigenständig und unkompliziert den Raum wechseln können? Denn das bedeutet ja, dass sie nicht nur in einen neuen Videokonferenz-Kanal wechseln, sondern dort auch gleich das in dem neuen virtuellen Raum befindliche „Flipchart“ sowohl sehen wie auch mitbearbeiten können.

Oder: Wie lässt sich der „Marktplatz“ realisieren? Das ist im Open Space der Ort, an dem die Agenda verhandelt wird. Dort stehen alle nach der ersten Stunde mit Anmoderation und Themenpräsentation vor der großen Wand, um sich einzutragen, wo sie mitmachen wollen, aber auch, um in Absprache mit den jeweiligen Initiatorinnen und Initiatoren Themen zusammenzulegen oder von einem Time Slot in einen anderen zu verschieben.

Die technische Lösung: QiqoChat

Viel spontane Interaktion also, die digital abgebildet werden muss. Doch die Lösungen, die wir bis dahin kannten, greifen hier zu kurz. Die Videoplattform Zoom zum Beispiel, mit der wir bereits viele Online-World-Cafés er- folgreich moderiert haben, bietet zwar die Möglichkeit, Breakout Sessions einzurichten. Doch können die Teilnehmenden hier nicht selbst wählen, welchem virtuellen Gruppen-Raum sie beitreten möchten, noch können sie einfach die Räume wechseln, um an einem anderen Workshop teilzunehmen. Die Möglichkeit wiederum, auf einer ei- gens erstellten Internetseite Links zu verschiedenen Videokonferenz-Kanälen zu bündeln, erschien sehr aufwendig.

Eine sinnvolle Alternative bietet hier die Plattform QiqoChat (siehe Info-Kasten S. 42). Das Tool ist kein weiteres Videokonferenz-System, sondern nutzt bewährte Systeme und bildet eine Art „Mantel“ um diese, der die Interaktion erleichtert. So ermöglicht es QiqoChat, sehr einfach eine Veranstaltungsseite zu er- stellen, die wiederum Links auf die genauso aufgebauten Internetseiten von bis zu 50 Gruppenräumen enthält.

Auf jeder dieser Seiten findet man einen Link zum Zoom-Meeting des Plenarraums beziehungsweise in die jeweiligen Gruppenräume. Von der Seite eines jeden Gruppenraumes gelangt man durch einen Klick also direkt in einen anderen Gruppenraum oder zurück in den Plenarraum. Bevor man im neuen virtuellen Raum ankommt, muss man allerdings auch das jeweilige Zoom-Meeting beenden und sich in das Zoom-Meeting des neuen Raums einwählen.

Auf der Seite aller Räume finden sich zudem ein oder mehrere Dokumente, die kollaborativ bearbeitet werden können. In der Regel sind es Google Docs. In unseren Online-Open-Space- Konferenzen ist dies auf der Hauptseite ein Dokument für die Agenda, die von allen bearbeitet werden kann. Ebenfalls zu finden, aber nicht bearbeitbar, sind:

A das Thema

A der Zeitplan

A und das Hilfe-Zentrum, in dem Tipps gegeben und technische Fragen geklärt werden.

Betritt man einen Gruppenraum, öffnet sich automatisch das „Flipchart“ – ein Dokument, auf das alle, auch zeitgleich, schreiben können.

Und dann gibt es immer auch zwei oder drei Pausenräume, wo sich diejenigen versammeln können, die sich kurz ausklinken und nur mit anderen reden wollen. Dort öffnet sich kein Flipchart-Dokument, sondern ein dekoratives Foto, sozusagen als Tapete (oder Ausblick) des virtuellen Pausenraums.

Selbstständiges Raum- Hoppin

Besonders hilfreich für Online Open Space Meetings ist, dass die Gruppenräume in QiqoChat nicht nur nummeriert sind. Man kann ihnen auch Namen geben. Das Thema, das im betreffenden Raum stattfindet, kann also direkt im Titel stehen. Ebenso ist es praktisch, dass man sowohl von der Plenarraum-Seite wie auch von jeder Gruppenraum-Seite aus sehen kann, wie viele Personen sich gerade in wel- chem Raum befinden – auch wenn es hier eine leichte zeitliche Verzögerung bei der Aktualisierung gibt. Wenn die Teilnehmenden ein Foto von sich hochgeladen haben, ist sogar sichtbar, wer gerade in welchem Raum ist.

Die Teilnehmer einer Online-Open-Space-Konferenz können eigenständig in Gruppenräu- me gehen und diese wieder verlassen. Was hier nicht geht, ist, dass Begleiterin oder Begleiter sie zwangsweise wieder in den Hauptraum zurückbeordern, wie das bei Zoom so einfach möglich ist. Das ist allerdings ohnehin nicht üblich. Bei Bedarf lässt sich jedoch jederzeit eine Nachricht absetzen, die dann auf den Seiten aller Räume gezeigt wird.

Weil QiqoChat ein ganz kleines Unternehmen ist, hat das Tool übrigens am Backend – das die Teilnehmenden nicht sehen – noch nicht den Gipfel an Benutzerfreundlichkeit erreicht. Dafür lässt sich der Entwickler persönlich leicht errei- chen und hilft bei Schwierigkeiten großzügig weiter. Auch muss man sich nicht auf monatliche Kosten verpflichten, sondern bezahlt pro Event. Für die Teilnehmenden ist die Zugangsschwelle angenehm niedrig: Sie können bei QiqoChat kostenfrei ein Profil anlegen oder einfach nur als Gast teilnehmen.

 

Online begleiten ist gar nicht so anders

Der delikateste Moment sind sicher die einleitenden zehn bis 15 Minuten, in denen die Begleiterin oder der Begleiter den Open Space anmoderiert. Hier ist es wichtig, sich darauf verlassen zu können, dass alle wirklich präsent sind, und das auch über die gesamte Zeit und online. Wir bitten daher vorher darum, dass alle mit ihrer vollen Aufmerksamkeit dabei sind.

In dieser Phase wird deshalb der Chat – also die Möglichkeit, sich per Text- nachricht an die Veranstalter oder andere Anwesende zu wenden – zeitweilig ab- geschaltet. Zusätzlich kann man die Teilnehmenden bei- spielsweise bitten, einmal kurz die Augen zu schließen und sich vorzustellen, wie sie mit allen anderen in einem Kreis sitzen und mit- einander verbunden sind.

Dann nehmen wir uns die Zeit, das Open Space fast genauso anzumoderieren, wie wir es auch in Präsenz tun würden. Auch wenn es ungewohnt ist, dass jemand online so lange spricht. Wie auch in Präsenzmeetings bereiten wir uns in- nerlich so vor, dass wir während der Anmoderation gelassen, im Vertrauen und fokussiert sind – und dass auch unsere Stimme entsprechend weich und voll klingt, wohl wissend, dass bei den Hörenden leider eine mäßige Tonqualität ankommt, die unsere Stimme härter klingen lässt als bei physischer Anwesenheit.

 

Marktplatz mit Kleingruppen

Nach der Anmoderation bringen alle, die dies möchten, ihre Themen ein, indem sie diese in eine vorbereitete Tabelle eintragen und dann auch verbal allen vorstellen. Dann folgt der sogenannte Marktplatz: Wenn alle Themen sozusagen an der Wand hängen, wird verhandelt, was wann wo stattfindet. Das funktioniert nach unserer Erfahrung im Hauptraum online allerdings nur mit bis zu 20 Personen wirklich gut.

Bei größeren Gruppen bitten wir die Teilnehmenden deshalb, sich zunächst nur darüber zu verständigen, in welchem Pausenraum sie sich gleich treffen. Dort wird dann miteinander verhandelt, ob Themen auf andere Zeiten verschoben oder mit anderen zusammengelegt oder wieder getrennt werden sollen, damit für alle Themengeberinnen und -geber eine gute Agenda entsteht. Dabei lässt sich natürlich auch online nicht vermei- den, dass der eine oder andere gerne an zwei Themen teilnehmen möchte, die beide zur gleichen Zeit stattfinden. Hier hilft dann nur – wie wir es online in Anlehnung an die Zwei-Füße-Regel manchmal nennen – das „Gesetz der zwei Klicks“, mit dem sich auch mittendrin ein Raum einfach wechseln lässt. Steht die Agenda, braucht es nun – anders  als  in  Präsenzveranstaltungen – zumindest bei größeren Online Open Spaces eine zweite Person, die sich als „Tech-Host“ um das Übertragen der Workshop-Themen auf die Workshop-Räume-Titel kümmert und die auch während der ganzen Veranstaltung im Hilfe-Zentrum bei technischen Fragen zur Verfügung steht.

Auch online lässt sich Nähe herstellen

Unser Eindruck ist alles in allem: Online Open Space ist machbar. Zweifellos macht Open Space offline mehr Spaß, doch wenn es nicht anders geht, lässt sich dieses Format auch online mit großem Gewinn durchführen. Wir können als Begleiter bei der Anmoderation mit unserer Präsenz auch online die Präsenz einer großen – und geografisch verteilten – Gruppe durchaus beeinflussen und sie buchstäblich „in unseren Bann“ ziehen, wie wir das auch in Präsenzmeetings tun. So können wir auch online dazu beitragen, dass alle Anwesenden mehr mit sich selbst in Kontakt sind – und ihnen helfen, zu erspüren, welche Impulse genau jetzt durch sie in die Gruppe kommen wollen.

Läuft das Meeting erst einmal, sind also alle in ihren Gruppen- oder in Pausenräumen, geht es darum, wie auch sonst, den Raum zu halten: Wir sind innerlich bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern beziehungsweise bei dem gemeinsamen Geschehen, auch wenn es online viel schwieriger ist, da man als Begleiterin ganz allein vor dem eigenen Laptop sitzt. Und es gelingt sogar, die Teilnehmenden nach der Mittagspause, also in einer weiteren kritischen Phase, wieder in eine präsente Stimmung zu führen.