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Übersetzung 4.0 – Von der Dampfmaschine zur Sprachturbine

Lokalisierungen im industriellen Kontext brauchen eine moderne, künstlerisch-intelligente, flexible und vor allem produktive technologische Basis.
Trados | 08.02.2022
© Trados
 

Lokalisierungen im industriellen Kontext brauchen eine moderne, künstlerisch-intelligente, flexible und vor allem produktive technologische Basis. 

In Analogie zu den vier Industriellen Revolutionen kann man auch die Entwicklung im Bereich Übersetzungstechnologie in vier generellen Phasen beschreiben. Warum sollte man das tun?

1769 – 1870 – 1969
Falls wir uns nicht mehr erinnern sollten – die Auswirkungen schmecken und fühlen wir noch heute: Als im Ausklang des finsteren Mittelalters in Europas Agrarstaaten die Dampfmaschinen angeworfen wurden, war das eines der Präludien zur ersten industriellen Revolution. Ein neuer, hektischer, unerbittlicher Rhythmus bestimmte die Alltage. Die Zigarre wurde zu lang, die Zigarette erfunden – es war nur noch Zeit für die kurzen Genüsse. Englands Städte leuchteten auch nachts im Feuer der Koksöfen, und die Bauern zogen in die Städte, um zu Lumpenproletariern zu mutieren. Als diese Entwicklung auf den Kontinent schwappte, schwang sich einhundert Jahre später das unscheinbare Chemnitz zu einem sächsischen Manchester auf. Berlin bescherte sie mit zwei großen Zuzugswellen einen Quantensprung auf dem Weg zur Metropole. 

Nach der ersten Phase folgten ebenso gnadenlos und konsequent Massenfertigung und Fließbandarbeit. Extensiv, rohstoffintensiv, mit mehreren grausamen Versuchen, die Claims neu abzustecken und einigen weltweiten Zusammenbrüchen auf der Transitstrecke. Bis Ende der 60er im Zwanzigsten dauerte diese zweite, elektrische Episode. Dann ging’s drittens los, dass jemand irgendwas mit Computern machte, und in der Industrieproduktion war das die Basis für so einige Automatisierungen.

Drei Bilder und die Vier
Die Dampflok im Beginn, immerhin zu riechen und hören – die Glühlampe als Synonym für ein knisterndes, mystisches Unsichtbares – der Lochstreifen als Erklärung für ein irgendwie ganz und gar abstraktes Etwas: Die technologischen Grundlagen für diese rasanten Änderungen wurden aus menschlicher Sicht immer weniger greifbar. Revolution Nummer Vier dagegen ist ein Kunstgebilde. 2014 ward sie ausgerufen und ist vor allem ein Versprechen in eine Zukunft, in der Produktionsabläufe mittels Informations- und Kommunikationstechnologie auf neue Art vernetzt sind, Systeme zunehmend autark agieren, Mensch und Maschine in einer ganz neuen Beziehungswelt stehen. Industrie 4.0 nennen wir das unter unserem DACH-Dach. 

Eine durchaus berechtigte Hauptkritik meint, dass der Kern untendrunter – nach wie vor die Mikroelektronik – nicht neu sei. Vielleicht leben wir aber in einer Zeit, in der auch der Begriff der Technologie neu zu interpretieren sein sollte? Wenn die Industrieprodukte nicht mehr nur bloße Gegenstände sind, sondern auch ihre Repräsentationen in Informationssystemen, Dokumentationen, vielfältigsten Relationen innerhalb der komplexen Wertschöpfungsketten mitgelten, ist eigentlich auch die Technologie, als die Lehre, Produktion zu planen und praktisch umzusetzen, etwas viel weiter zu Fassendes. Könnte man so sehen.

1868 – 1984 – 2015 – 2021 :: Im Universum nebenan
Wo man konstruiert, wird auch dokumentiert. Die Sprache war schon immer dabei, seit dem Anfang aller Industrie. Und auch in diesem ganz speziellen Kosmos können wir unsere eigenen vier kleinen Revolutionen finden.

Selbst wenn man den Charakter im 19. Jahrhundert erbrachter linguistischer Dienstleistungen eher mit dem Charme einer verstaubten Manufaktur beschreiben würde – mit der Erfindung der Schreibmaschine wurde das ein bissel anders. Hängen wir deren Geburtsjahr an das Erscheinen eines der ersten serientauglichen Modelle auf dem Markt, so etwa 1868, dann war dieses geniale Gerät über 100 Jahre lang am Start, bis sich durch den Einsatz von PCs eine neue Situation ergab. 

Den Zweitknall gab es aber nicht direkt mit dem Siegeszug der Personalcomputer – das war zunächst die Basis für neue Quantitäten – sondern mit dem Beginn der Ära der Translation Memories. Die bescherten tatsächlich eine neue Qualität des Arbeitens. In der ersten Zeit haben einige Leute im Übersetzungsbereich krasses Geld verdient. Immer wieder das fast Gleiche abzuliefern, dafür nur wenige Finger zu rühren, hat einige Nasen golden gepudert. Als dann allerdings die Auftraggeber auf die Idee kamen, die Übersetzungsprozesse in die eigene Hand zu nehmen und die Effizienzen selbst einzulösen, war das wiederum ein gewaltiges Einsparpotenzial auf deren Seite. Und dieser Schritt war viel folgenreicher, als dass jemand nur ein bissel Geld gespart hätte. Das sehen wir weiter hinten. 

Den dritten revolutionären Sprung in der Lokalisierungswelt machten die maschinellen Übersetzungskomponenten, als sie endlich den Markt eroberten, und das ist noch gar nicht so lange her. Regelbasierte MÜ-Systeme hatten es über die Jahre selten in die realen Anwendungsszenarien geschafft. Sie konnten zwar gute Texte sehr gut, aber schlechte Texte nur recht schlecht verarbeiten, und das Gros der Texte weltweit ist – aus linguistischer Sicht – nicht so gut. Erst mit dem Einzug neuronaler Technologie gab es endlich Ergebnisse, die der Maschinellen Übersetzung zur ersehnten Akzeptanz verhalfen. Im großen Stil ist das erst um 2015 herum geschehen.

Neue Optionen
Im Moment ist so richtig Musik drin in der Übersetzungsbranche. In den klassischen Produktionsszenarien werden die Abläufe immer mehr verzahnt, die Dokumentationsprozesse zum direkten Bestandteil der Wertschöpfungsketten. Ihre singuläre Betrachtung ist inzwischen fast nicht mehr möglich, sie gehen in Contentstrategien auf, mit denen versucht wird, alle Szenarien der Erstellung und Verarbeitung von Inhalten abzudecken. Zudem führt die zunehmende Konzentration von Konzernen zu einem höheren Grad der Internationalisierung, der interne, multilinguale Abstimmungen in weit höherem Maße erfordert, als bis dato. 

Für Startups, die vielleicht nicht selbst produzieren, aber ihrerseits Dienstleistungen im industriellen Kontext anbieten, gilt im Grundsatz das Gleiche: Auch sie klinken sich in die großen Abläufe ein, und was auf ihrer Seite mit Mehrsprachigkeit zu tun hat, muss erst recht in das große Ganze eingebettet werden. All das beschreibt unsere Phase 4.0: Lokalisierung als integrierter Prozess – flexibel zu handhaben und intelligent steuerbar. 

Integrationen, Szenarien, in denen Übersetzungsprozesse in übergeordnete Architekturen eingebunden sind, gibt es schon seit geraumer Zeit. Aber eine rapide zunehmende Komplexität, wachsende prozessuale Abhängigkeiten, eine plötzliche Projektvielfalt aufgrund von Zentralisierungen, schmale Zeitfenster, explodierende Volumina, Skalierungsdruck und eine gefühlt unendlich große eingeforderte Flexibilität – all das führt weltweit vielfach zu brennenden Desktöpfen und verlangt nach neuen Organisationsformen.


Künstlerische Intelligenz
Im Deutschen Forschungszentrum für künstliche Intelligenz bei Hans Uszkoreit hatte ich die erste Begegnung mit dem Konzept Industrie 4.0, und die bescherte mir eine Mischung aus Faszination und Grusel: Man gibt einer Maschine eine Produktbeschreibung, stellt ihr eine Palette mit Rohlingen hin, dann macht die alles selber: rüstet sich ein und um, produziert, wechselt abgenutzte Werkzeuge, verpackt die fertigen Produkte und sagt Bescheid, wenn sie fertig ist. Je nachdem, wie komplex die Fertigungsprozesse sind, hat der Mensch als Beobachter überhaupt keine Chance, den Überblick zu gewinnen. Dafür bedarf es völlig neuer Kommunikationsstrategien zwischen ihm und der Maschine. 

In Übersetzungsprozessen gibt es ähnliche Phänomene, Abhängigkeiten und Probleme. Ganz klassisch, weiß ein Übersetzer oft nicht, in welchem Kontext er sich befindet. Oder ganz modern, sind die Resultate der maschinellen Übersetzung zwar fragwürdig – aber das Warum ist bei neuronalen Systemen gar nicht wirklich zu beantworten. Oder noch moderner: Eine Fachabteilung hat es geschafft, sich als zentrales Übersetzungsmanagement im Unternehmen zu etablieren – aber der Erfolg wird auch zum Fluch und es werden dringend systemische Unterstützungen benötigt – nicht nur Steuerungen, sondern Regelungen, möglichst mächtig, flexibel und schlau.

Die Grundlage ist das Fundament der Basis
Die Industrie wird den Zwängen der Industrie nicht entgehen. Deren Tentakel tangieren auch all die Lieferanten und Dienstleister. Und an dieser Stelle kommen wir zurück auf jenen Aspekt im Zusammenhang mit den Translation Memories weiter oben – dass viele Unternehmen die Gestaltungsmacht über die Übersetzungsprozesse auf ihre Seite verlagert haben, ist nämlich eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass ein konzertiertes Ganzes mit all seinen Verflechtungen überhaupt erst entstehen kann. Das ist in diesem Kontext unerlässlich für Prozesssicherheit, Qualität, Time2Market.

Ein Aspekt dabei ist die Zentralisierung der Ressourcen – der Datenbestände und Konfigurationen, auch der Prozesslogik insgesamt. Die wichtigere Kehrseite der Medaille ist das Dahinter – die Methoden, Algorithmen und Systematiken – die Technologie im Gesamtsystem.

Im Bereich Translation Management gibt es eigentlich nur wenige Wolkenapplikationen, die hässlich aussehen. Auf den ersten Blick könnte man in den meisten Fällen meinen – das könnte uns schon mal weiterhelfen. Aber der wahre Nutzen ergibt sich aus den Details, und das war ja der Kern unseres vorherigen Blogs: Man muss es auch können.

Die angewandte Sprachwissenschaft ist eine hohe Kunst geworden. Ein Workflowmanagement ohne diese Basis mutiert zu einem modernen Datenverschiebebahnhof. Die Gleise und geschickten Verbindungen sind essentiell für die Logistik, aber im Kern ist es von entscheidender Bedeutung, dass man auch weiß, was man mit den Inhalten in den Güterwagons sinnvoller Weise macht. Erst auf dem Fundament dieser Expertise kann man eine Grundlage schaffen für optimale Prozesse, in denen man nicht den Bahndamm herunterpurzelt.

Es ist auch nicht ganz unwichtig, mit welchem Geschäftsmodell ein Technologieanbieter unterwegs ist – ob er sich als ein gewiefter Customizer präsentiert, der seine Kunden mit maßgeschneiderten Sonderlösungen in eine Geiselhaft nimmt, in der es keine preiswerten Upgrades und aus der es schon gar kein kostengünstiges Entrinnen mehr gibt – oder ob er ein leistungsstarkes Standardprodukt mit einer offenen Architektur präsentiert, die flexibel in beliebige Zusammenhänge integriert werden kann.


Vier Null
Auf dem weiten Feld der Übersetzungen stehen die Zeichen der Zeit ziemlich stark auf Sturm – auf Ganzheitlichkeit und konsequente Stringenz in den Prozessen, Konsistenz in den Resultaten, Entgegenkommen in der Kostengunst und damit letztlich auf Verdammnis: Es gibt eine große, grundlegende Unausweichlichkeit in Bezug auf die Notwendigkeit, möglichst allumfassend Synergien einzulösen, mit etablierten Szenarien und Teams ein Vielfaches an Leistung zu erbringen, früher als utopisch erachtete Zeitfenster zu bedienen. 

Solche Anforderungen kann man nicht durch das schlichte Zusammenschrauben von Komponenten erfüllen. Das Übersetzungsgeschehen gehört immer tiefer in den industriellen Kontext etabliert, und in dem darf es nicht nur ein Spielball übermächtiger System- und Prozessdefinitionen sein, sondern muss auch den Charme der eigenen Leistungsfähigkeiten ausspielen können.

Die Übersetzungstechnologie ist erwachsen geworden und bereit dafür. Deshalb haben wir hier mal das 4.0er Gleichnis gewagt.

Es würde uns sehr freuen, wenn wir uns an dieser Stelle wiederlesen könnten oder gern auch anderen Ortes ins Gespräch kommen. Sausen Sie weiterhin gut durch diese Zeit!

 

Autor: Horst Liebscher

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