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Der souveräne Konsument bleibt irrational

Den Homo Oeconomicus gibt es nicht. Trotzdem unterscheiden wir „objektive Produktmerkmale“ und „emotionale Markenaufladung“. Das ist totaler Unsinn!
Klaas Kramer | 13.09.2009
Jeder vernunftbegabte Mensch weiß, der Homo Oeconomicus ist nur ein volkswirtschaftliches Konstrukt. Als lebendiges Wesen existiert er nicht.
Obwohl wir das wissen, wird in regelmäßiger Wiederholung die Unterscheidung „rational beurteilbare Produktmerkmale“ vs. „emotionale Markenaufladung“ neu aufgewärmt.
Wir Menschen sind seit langer Zeit in die Unterscheidung rational/ emotional verliebt.

Womit sich Marken unterscheiden

Manch einer erinnert sich an die 1990er Jahre: Seinerzeit wurde der kommunikativen Idee das erfolgskritische Moment zugesprochen. Die Marketingprofis waren sich darin weitgehend einig, dass sich konkurrierende Produkte kaum noch voneinander unterschieden und allesamt eine mehr als ausreichende Gebrauchsqualität aufwiesen. Fragt man auch heute genauer danach, was eigentlich Qualität ist, wird es sehr schnell philosophisch. Den Protagonisten des Bestsellers „Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten“ hat diese Frage in den Wahnsinn getrieben.
Heute wird gern die Unterscheidung gesucht zwischen empirisch nachprüfbares Alleinstellungsmerkmal und ausschließlich auf erzählten Geschichten beruhenden Unique Selling Propositions. Letztere wird daraufhin immer häufiger als Unique Communication (wahlweise auch: Advertising) Proposition genannt.*
Kritiker verweisen darauf, dass Kommunikation alleine nur virtuelle Nutzenversprechen erzeuge, die Verbraucher beim echten Erleben des Produktes enttäuschen können.

*Ich lasse unberücksichtigt, dass Vershofens Nutzenleiter aus den 1950ern schon wesentlich differenzierter war und „Selling“ dem Begriff nach gar nicht auf das substanzielle Produkt verweist und bei Rosser Reeves (dem Urheber der USP) Verweise aus der Substanz oder dem Gebrauch für die Werbung fruchtbar gemacht werden sollten.

Marke ist immateriell

Jede Marke ist immateriell. Deshalb wird in der Literatur „Marke“ mitunter ohne Artikel verwendet. Auch Gott gibt es nur als „der liebe Gott“ mit Artikel – also während der hilfsweisen Materialisierung zur Veranschaulichung für Kinder.
Eine Marke existiert in den Köpfen der Menschen. Durch Kommunikation erwirbt eine Marke soziale Relevanz. Damit ist sie gerade nicht „nichts“ wie der Blogger Ralf Schwartz schlussfolgert. Blogger operieren hauptsächlich über unsichtbare Netze. Ihre Kraft und ihr Einfluss entsteht durch deren Beobachtungen, Schlussfolgerungen, deren scharfen Geist. Das ist alles nicht „nichts“, nur weil es immateriell ist. Es ist paradox, das gerade Menschen, die sehr aktiv im Web 2.0 kommunizieren, dem Materiellen eine größere Bedeutung beimessen als dem Immateriellen.

Warum neigen moderne Blogger zu überholter Ontologie?

Beobachtet man die Argumentation in der so genannten Blogospäre, dann findet sich die eingangs erwähnte Unterscheidung „Produkt“ vs. „imagegeladene Marke (=emotional-manipulative Werbewelten)“ in zugespitzter Form wieder.
Gerne berufen sich Blogger auf leicht erfahrbare Kriterien zur Beurteilung von Warenqualitäten: dass ein Blackberry irgendetwas besser oder schlechter kann als das iPhone, dass auf Serviceanfragen erst nach 3 Tagen reagiert wird, dass bei einem Auto nach 100 km die Elektronik komplett ausfällt. Was sie vergessen: all dies sind subjektive Erfahrungen, die dem einen dies und dem anderen jenes bedeuten. Was also soll eine „objektive Produktqualität“ sein?
Die Unterscheidung Produkt/ Marke wird von einem Beobachter getroffen. Sie ist eine kognitive Operation. Das Produkt ist nur eine von vielen Markenkommunikationen. Die Marke Gucci wird sehr vielen Menschen vertraut sein, ohne dass sie auch nur ein Produkt ungefähr beschreiben könnten, geschweige berührt hätten.

Ideen bewegen die Welt – auch Werbeideen?

Der Wert der Materie ist nur dann einer, wenn ein Beobachter diesen Wert konstatiert.
Unsere Emotionen – also etwas immaterielles – bestimmen, wie wir etwas bewerten: ob uns ein Produkt gefällt oder ärgert, ob uns diese oder jene Qualität wichtig oder egal ist.
Ideen – ebenfalls immateriell – bewegen die Welt und damit auch die Teilwelt der Wirtschaft.
Unter „Idee“ ist nicht einfach eine Werbeidee zu verstehen. Werbeideen sind meistens kurzfristig und oberflächlich. Nur in Ausnahmefällen hat eine Werbeidee im Verlaufe von Jahrzehnten eine Markenpersönlichkeit zum Ausdruck gebracht.
In den vergangenen 15 Jahren hat die Werbeidee an Relevanz verloren. Aufgrund der veränderten Medienrealität sind die Chancen prinzipiell gesunken, dass eine Werbung Menschen erreicht. Der Wettbewerb an Sinnangeboten ist größer und vielfältiger geworden. Auch der Kontext der Werbung hat sich verschoben: Den Nimbus von der glamourösen Massenmedien-Promi-Aura hat Mediawerbung weitgehend verloren: Hat man „Werbung“ und „Spot“ seinerzeit noch mit sexy Hochglanzmodels assoziiert, so denkt man heute beim Begriff Werbung als Erstes an lästige Popups für private Krankenversicherungsvertreter.

Alles ist Emotion

Was populistisches Neuromarketing immer wieder als neue Erkenntnis verkaufen will, ist verständigen Menschen schon lange klar: Rationalität und Emotionalität sind keine Widersprüche.
Das Hemisphärenmodell vom Gehirn ist längst widerlegt, wonach bei Rechtshändern die linke Hälfte für das Rationale und die rechte Hälfte für das Assoziativ-Emotionale zuständig sein sollte.
Rationalität ist ein Reflexionsspiel unseres Gehirns und nie unabhängig von Emotion. Schon die Entscheidung, „jetzt mal ganz rational zu urteilen“ ist eine emotionale.
Der souveräne Konsument darf sich also ohne schlechtes Gewissen seiner Emotionalität bewusst sein.