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Die Legitimationskrise der Globalisierung

Wäre die Welt von heute ein Mensch, würde man ihr raten, sich einer Therapie zu unterziehen.
Von Prof. Dr. Henning Vöpel

Es ist immer gefährlich, von einem Kollektiv wie von einem Individuum zu sprechen, so als habe es ein Bewusstsein. Aber wäre die Welt von heute ein Mensch, würde man ihr raten, sich einer Therapie zu unterziehen. Die Diagnose lautete dann wohl, dass der Patient unter kognitiven Dissonanzen leide: zu vieles an Grundfesten erschüttert, zu vieles an Geschehenem unerklärt, kein Erfahrungsanker, der hilft, keine Verhaltensregel, die taugt, die Gegenwart zu verstehen und die eigene Zukunft zu gestalten. In solchen Situationen, wenn alles zusammenbricht, nichts mehr hält, neigen Menschen dazu, Unvorhersehbares zu tun. Und offenbar auch die Welt.

In einem solchen Zustand der chaotischen Unordnung befindet sich derzeit die Welt. Ob Brexit, Putsch, Flüchtlingskrise, Rechtspopulismus oder Gewalt zwischen Terror und Amok: Uns beschleicht das Gefühl, dass es sich um weit mehr als eine zufällige Koinzidenz von Ereignissen handelt, dass vielmehr alles eine gemeinsame Ursache haben müsse. Tatsächlich steht hinter alledem eine ernste Legitimationskrise der Globalisierung. Die alten Institutionen, die eigentlich helfen sollen, Konflikte zu beherrschen, Interessen auszugleichen, Lösungen zu koordinieren, Gesellschaften und Individuen Halt und Haltung zu geben, haben versagt, die Globalisierung - fast möchte man sagen: sozialpsychologisch - verträglich zu gestalten. Die Verführbarkeit der Menschen durch einfache Lösungen und billige Versprechen steigt dadurch gefährlich an.

Das Vertrauen in Institutionen dagegen nimmt umgekehrt immer mehr ab. Die Institutionen selbst haben inhärente Widersprüche und dadurch quasi kognitive Dissonanzen erzeugt, die wiederum ökonomische Krisen und geopolitische Konflikte ausgelöst haben. Alte Handlungsmuster und eingeübte Rollen helfen nicht mehr, passen nicht länger in einer unverstandenen Welt. Der Wandel in der US-Außen- und Sicherheitspolitik etwa führt uns in Europa vor Augen, dass man keine gemeinsamen Außengrenzen definieren kann, ohne zu einer gemeinsamen europäischen Flüchtlingspolitik fähig zu sein. Europa kann nicht länger unentschieden bleiben.

Ohne Geschichte lässt sich Politik und Weltwirtschaft heute nicht mehr verstehen, siehe etwa Putin, der die Geschichte bemüht, gefährlich uminterpretiert, um Rückhalt für seine Politik zu organisieren. Dabei schien mit dem Fall des Eisernen Vorhangs die einsetzende Dominanz der globalen Märkte über nationale Politik das "Ende der Geschichte" besiegelt zu haben, wie es der US-amerikanischen Politikwissenschaftler Francis Fukuyama seinerzeit proklamierte. Doch die ideologischen Widersprüche haben sich nicht im Sinne einer Hegelschen historischen Dialektik in einer Synthese von Demokratie und Marktwirtschaft aufgelöst. Der unregulierte globale Kapitalismus hat nicht - wie es die klassische Außenhandelstheorie verspricht - zu Wohlstand allerorten geführt, denn in vielen Ländern selbst, aber vor allem auf supranationaler Ebene wurde der notwendige Ordnungsrahmen, eine funktionsfähige Global Governance nicht mitentwickelt. Die derzeitigen Regeln und Institutionen der Globalisierung reflektieren schlichtweg nicht die Interessen der Menschen und sind nicht auf den fairen Ausgleich zwischen den Ländern ausgerichtet. Aus diesem Grund handelt es sich im Kern um eine Legitimationskrise der Globalisierung.

Globalisierung ist eine Idee und sie ist zugleich ein Prozess. Für beides existiert keine Legitimation. Was fehlt, ist eine "Verfassung" der Globalisierung. Wir stimmen in nationalen Parlamenten lediglich über die Ergebnisse der Globalisierung ab, ohne jemals ihren Regel zugestimmt zu haben. Wenn eine gemeinsame, allgemein zustimmungsfähige Verfassung der Globalisierung nicht möglich ist oder wenigstens implizit existiert, dann darf die Antwort jedoch nicht sein, die Globalisierung aufzugeben, in Nationalstaatlichkeit zurückzufallen, wie es vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges und den sich anschließenden Tragödien des letzten Jahrhunderts der Fall gewesen ist. Es kommt angesichts der nur global und kooperativ lösbaren Probleme vielmehr darauf an, Stück für Stück, gewissermaßen nachträglich die globale Ordnung zu legitimieren. Die Bereitschaft und die Fähigkeit dazu beschränken indes das Tempo und das Ausmaß der Globalisierung.

Der Harvard-Ökonom Dani Rodrik hat das in seinem Trilemma aus Globalisierung, Nationalstaat und Demokratie eindrucksvoll beschrieben: Alles Drei könne man nicht gleichzeitig haben. Die Auflösung des Trilemmas liegt tatsächlich in der fortschreitenden Legitimation der Globalisierung. Deshalb ist ein neuer Nationalismus genau die falsche und ein neuer Liberalismus die genau richtige Antwort. Nicht umsonst geht die Krise der Globalisierung von jenen Ländern aus, in denen die geringste Legitimation der Globalisierungsphänomene existiert. Ländern, in denen Globalisierung auf korrupte Institutionen und autoritäre Regierungen trifft. In Ansätzen gilt dies jedoch auch für Europa und die USA, in denen die untere Mittelschicht, die so entscheidend für sozialen Zusammenhalt und Stabilität ist, nicht mehr von der Globalisierung profitiert und am sozialen Aufstieg durch undurchlässige Strukturen gehindert wird. Die Interdependenz der Ordnungen von Marktwirtschaft und Demokratie funktioniert nicht mehr. Das Resultat ist nicht allein ein zunehmendes Misstrauen in die Soziale Marktwirtschaft, sondern auch eine Skepsis gegenüber den Versprechungen der Globalisierung.

"Grenzen" werden das große Thema der nächsten Jahre. Sie haben bei der Neuordnung der Globalisierung die wichtige Funktion, die Kongruenz zwischen Gemeinwohl und Legitimation herzustellen. Es lässt sich Legitimation nur für ein sinnvoll abgrenzbares Gemeinwohl denken. Die Europäische Union etwa hat sich Grenzen gegeben, innerhalb derer unter 28, bald 27 Ländern Demokratie kaum sinnvoll organisiert werden kann, weil es kein gemeinsames Verständnis von Gemeinwohl gibt. Die Fragmentierung von Gesellschaften wird im Zeitalter der Digitalisierung im Gegenteil weiter zunehmen, die Frage der Legitimation immer schwieriger. Grenzen sind in diesem Sinne dann nicht notwendigerweise Bedrohung von Offenheit, sondern dienen ihrem Schutz. Wichtig ist daher heute, in Zeiten der größten Krise der Globalisierung, eine Stärkung der Legitimation gerade in den offenen Gesellschaften, den liberalen und demokratischen Ländern, denn nur so lassen sich die kognitiven Dissonanzen der Welt therapieren und die "Verfassung" der Globalisierung verbessern.