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Vom Fintech-Star zum Finanzdebakel

Aufarbeitung des Wirecard-Skandals. Wirtschaftsprüfer in der Pflicht.
Martin Kühler | 14.09.2023
© freepik / mindandi
 

Im Juni 2020 trifft eine schockierende Nachricht die deutsche Finanzwelt: Die Wirecard AG, Börsenliebling und Hoffnungsträger der Digitalisierung, ist insolvent. Dem Konzern fehlen knapp zwei Milliarden Euro Umsätze, die eigentlich auf Treuhandkonten auf den Philippinen hätten verbucht sein sollen. Doch das Geld ist nicht da, Wirecard zahlungsunfähig und der Aktienkurs fällt ins Bodenlose. Für viele Anleger bedeutet das einen Totalverlust ihres Investments.

Gründung, Aufstieg und Fall

Als Start-up 1999 in München-Lehel gegründet, legte Wirecard eine rasante Karriere in der Welt des digitalen Zahlungsverkehrs hin: 2005 gelang der Börsengang, 2007 erfolgte die Gründung der Tochtergesellschaft Wirecard Asia Pacific und ab 2014 weitete das Unternehmen seinen Wirkungsbereich auch nach Australien, Afrika und Amerika aus. Allerdings kamen seitens verschiedener Börsen-Akteure bereits ab 2008 Betrugsvorwürfe gegen Wirecard auf, die der Konzern jedoch juristisch unterbinden ließ. Schließlich spielte Fahmi Quadir, Gründerin des New Yorker Hedgefonds Safkhet Capital und der Finanzwelt als Shortselling-Königin bekannt, der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) Informationen über mögliche illegale Aktivitäten bei Wirecard zu. Als Folge musste der Konzern sich 2018 einer Prüfung durch die DPR, die Deutsche Prüfstelle für Rechnungslegung, unterziehen, die allerdings erst 2020 zum Abschluss kam. In der Zwischenzeit berichtete die „Financial Times“ mehrfach über Wirecard und unterstellte dem Konzern Betrug und Bilanzfälschung. Schließlich gab das Unternehmen im Oktober 2019 eine Sonderprüfung bei KPMG in Auftrag. Das im April 2020 veröffentlichte Ergebnis zeichnete ein ernüchterndes Bild: Wirecards Belege für das Drittpartnergeschäft in Asien seien unzureichend. Angebliche Umsätze von circa 1,9 Milliarden waren laut den Wirtschaftsprüfern nirgends aufzufinden, die Drittpartner („Third-Party Acquirer“, kurz TPA) zeigten sich unkooperativ. Letztendlich musste Wirecard zugeben, dass auch die Wirtschaftsprüfer von Ernst & Young (EY) für die Jahresbilanz 2019 keine ausreichenden Belege über das betreffende Bankguthaben finden konnten. Wirecard meldete am 25. Juni 2020 Insolvenz an, schied schließlich aus dem DAX aus und Aktionäre erlitten Schäden in Milliardenhöhe.

Wirecard vor Gericht

Aktuell laufen mehrere Verfahren gegen verschiedene am Wirecard-Skandal beteiligte Parteien. Zum einen sind der ehemalige Vorstandsvorsitzende Markus Braun sowie weitere Wirecard-Entscheidungsträger vor dem Landgericht München I unter anderem des gewerbsmäßigen Bandenbetrugs und der Marktmanipulation angeklagt, zum anderen müssen sich EY sowie weitere Parteien geschädigten Anlegern gegenüber in einem Prozess nach dem Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz (KapMuG) verantworten. Im Strafverfahren gegen Markus Braun sowie weitere Wirecard-Verantwortliche liegt der Fokus hauptsächlich auf dem Drittpartnergeschäft: Im Mittelpunkt steht die Frage, ob es die betreffenden Milliardenumsätze überhaupt jemals gab, wobei die Anklage davon ausgeht, dass dem nicht so ist. Für Anleger besteht im Insolvenzverfahren über das Vermögen von Wirecard die Möglichkeit, ihre Ansprüche zur Insolvenztabelle anzumelden. Nach Einschätzung der Tübinger Kanzlei TILP sind dazu solche Investoren berechtigt, die zwischen dem 18. Februar 2019 und dem 18. Juni 2020, 10:43 Uhr Wirecard-Finanzinstrumente erworben und im Zuge der Insolvenz einen Transaktions- oder Kursdifferenzschaden erlitten haben, der auf ein Fehlverhalten von Wirecard als Wertpapieremittent zurückgeht. Momentan steht allerdings noch ein Urteil des Oberlandesgerichts (OLG) München aus, das in zweiter Instanz darüber entscheiden soll, ob Anleger als Insolvenzgläubiger gelten. In einem ersten Urteil aus November 2022 (Az. 29 O 7754/21) hatte das Landgericht München I dies verneint.

Wirtschaftsprüfer in der Pflicht

Am erfolgversprechendsten für Geschädigte schätzt TILP derzeit ein juristisches Vorgehen gegen EY ein. Bereits im Juni 2020 leitete die Kanzlei das Musterverfahren nach dem KapMuG gegen die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft in die Wege. Mit dem Vorlagebeschluss Az. 3 OH 2767/22 KapMuG wurde dieses schließlich im März 2022 vor dem OLG München eröffnet. Anleger können ihre Ansprüche noch bis zum 18. September 2023 verjährungshemmend zum Musterverfahren anmelden, bevor mit Ablauf des 31. Dezember 2023 die Verjährung einzutreten droht. Durch das Musterverfahren gegen EY stehen die Chancen auf Schadensersatz nach Einschätzung der Kanzlei TILP relativ gut. Die Beschlusskammer „Berufsaufsicht“ der Abschlussprüferaufsicht hat am 31. März 2023 ihre Entscheidung gefällt. Sie sieht bei der Prüfung der Abschlüsse der Wirecard und der Wirecard Bank in den Jahren 2016 bis 2018 Berufspflichtverletzungen als erwiesen an und hat Sanktionen gegen die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft selbst und gegen fünf Wirtschaftsprüfer verhängt.