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Warum die Telefon-E-Mail-Brief-Sender-Empfänger-Kommunikationsberieselung nicht mehr funktioniert

Abschied von den Tweed-Managern
Gunnar Sohn | 18.07.2011
Ach wie schön waren die alten Zeiten, in denen Prozesse, Pläne, Budgets, Reklame, Kampagnen, Messen, Meetings und Marktprognosen den Arbeitsalltag von Führungskräften in Wirtschaft und Verwaltung prägten. Alles so schön überschaubar. Die Kommunikation mit Kunden funktionierte über so genannte Kanäle. Im Service sind also Kanalarbeiter tätig gewesen – nicht zu verwechseln mit dem namensgleichen Parteiflügel der SPD. Man hatte ein Ansinnen und schickte seine Botschaft über einen Kanal: Per Telefon, Brief, E-Mail oder über die persönliche Ansprache an Messeständen. Da liegt es doch auf der Hand, die Kommunikationsmöglichkeiten über soziale Netzwerke einfach in diese Prozesskette einzugliedern. „Lassen Sie es mich ketzerisch formulieren: Social Media ist keine welterschütternde Revolution, sondern ein neuer Kanal – Punkt. Der Kunde hat ein Anliegen und ob er diese nun per SMS oder als ‘Kunde 2.0′ über Social Media kommuniziert, ist nicht so entscheidend“, verkündet ein Silberlocken-Salesmanager in einer Werbeanzeige. Als Überschrift wählte der Dadaist der Serviceökonomie die kryptische Formel: Kunde 2.0 + Enterprise 2.0 = Kundenkontakt 4.0.

Alles eine Zeitgeisterscheinung
Man spürt die Verkrampfung dieser liebwertesten Gichtlinge aus dem Industrieparadies des 20. Jahrhunderts, wenn sie sich mit Dingen beschäftigen müssen, die sie nicht kapieren. In Anlehnung an das Standardwerk von Marshall McLuhan formuliert es der Grafiker Quentin Fiore in seiner Schrift „Das Medium ist die Massage“ etwas deutlicher: Ein Überleben sei heute unmöglich, wenn man sich seiner Umwelt, dem sozialen Drama, mit einer starren, unveränderlichen Haltung nähert – eine geistlose, immer gleiche Reaktion auf das Verkannte. „Leider begegnen wir dieser neuen Situation mit einem riesigen Ballast überholter intellektueller und psychologischer Reaktionsmuster. Sie lassen uns h-ä-n-g-e-n. Unsere eindrucksvollsten Wörter und Gedanken verraten uns. Sie verbinden uns mit der Vergangenheit, nicht mit der Gegenwart“, schreibt Fiore. Der Salesmanager 4.0 hasst in Wahrheit die Welt der Blogs, Foren und Netzwerke. Alles eine Zeitgeisterscheinung. Er kann einen Tweet nicht von einem Tweed unterscheiden. Letzteres hängt ja als Sakko in seinem Kleiderschrank. Warum sollte es da noch etwas anderes geben. Neumodischer Kram. Das Netz richtet sich aber nicht mehr nach den Gesetzen der Tweed-Kanalarbeiter.

Es herrscht asymmetrisch, wie es die Zeit-Autorin Tina Hildebrandt formulierte in ihrem Exkurs über den Depp-der-Woche.de. Unkontrollierbare Schwärme gegen Individuum oder Organisation. Der Salesmanager 4.0 ist in Wahrheit ein Kaiser Wilhelm der Neuzeit, der fest an die Zukunft des Pferds glaubte und das Automobile für eine vorübergehende Erscheinung hielt. In zehn Jahren wird es diesen Manager nicht mehr geben. Auch Call Center mit ihren nervigen Telefon-Attacken sterben aus. Dominant werden Kommunikationsströme, die sich selbst organisieren, die vernetzte Formen der Einflussnahme annehmen und nicht steuerbar sind. Einen kleinen Vorgeschmack bekam ein deutscher Versandhändler, der sich brüstet, an der Spitze des Web 2.0 zu marschieren. Weit gefehlt. Heute bist Du der König und morgen schon eine Krämerseele des Internets. Auf die öffentliche Klage des Bloggers Richard Gutjahr über Werbe-Spam und unverfrorene Call Center-Mitarbeiter antwortete kein Sales Manager 4.0, sondern demütig ein Vorstandsmitglied: „Dass Sie keine Post mehr von uns wünschen, war in Ihrem Kundenkonto bereits vermerkt. Bis die Änderungen in sämtlichen Kanälen (da sind sie wieder, die Kanäle, gs) wirksam werden, kann es wegen der Vorlaufzeiten von Printsendungen jedoch ein paar Wochen dauern. Wir nehmen Ihren Fall zum Anlass, die Prozesse (Phrasendeutsch, gs) weiter zu beschleunigen. Dass meine Kollegin im Call Center unangemessen reagiert hat, tut ihr und uns sehr leid. Auch dies werden wir zum Anlass nehmen, die vielfach gelobte Arbeit der Kollegen zu verbessern. Ihr Kundenkonto löschen wir selbstverständlich sofort. Vorher möchten wir Ihnen aber noch Ihr Guthaben von 100 Euro per Verrechnungsscheck auszahlen.“ Auf dieser Schleimspur muss man aufpassen, nicht auszurutschen. Entsprechend bissig fiel die Replik von Gutjahr aus: „Dass ich mit meinem Wunsch nach informationeller Selbstbestimmung gegenüber Ihren ‚Vorlaufzeiten‘ und internen ‚Prozessen‘ unangemessen reagiert habe, tut mir sehr leid. Auch dies, lieber Herr Voigt, werde ich zum Anlass nehmen, Ihre vielfach gelobte Arbeit als ‚PR-Professional des Jahres 2009‘ in Zukunft mehr zu würdigen.“

Das faszinierende Gefühl, live dabei zu sein
Kapieren es die Kanalarbeiter jetzt so ein wenig, dass hier keine Telefon-E-Mail-Brief-Sender-Empfänger-Kommunikationsberieselung mehr vorliegt? Bislang lief das Ganze unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Textbausteine und Skript prägten den Alltag im Kundendienst. Laufen Serviceanfragen, Kritik über schlechte Dienstleistungen oder technische Mängel über soziale Netzwerke, helfen Sprachregelungen, Beruhigungspillen (siehe 100 Euro-Gutschein für Gutjahr), Kontrollschleifen, Autorisierungen und Mauertaktiken nicht mehr weiter. Echtzeit, die techno-logische Konsequenz der Ungeduld, verändert die Gesprächsformen im Netz, so Sascha Lobo in seiner Spiegel Online-Kolumne: „Es ergibt sich eine chathafte Situation, ein digitales Gespräch in Echtzeit, das faszinierende Gefühl, live dabei zu sein, wo genau jetzt etwas passiert im Netz. Ungeschmeidiger, langsamer funktionierende Kommentarsysteme werden große Probleme bekommen.“

Produkte oder Dienstleistungen, die es schaffen, die Ungeduld ihrer Nutzer in Schach zu halten, haben keine Chance. „Weil die digitale Vernetzung immer tiefer in die Gesellschaft eingreift, bleibt die Wirkung der digitalen Ungeduld nicht auf das Internet beschränkt. Auf fixmystreet.co.uk und dem bezeichnend benannten seeclickfix.com Nutzer in Großbritannien und den USA infrastrukturelle Mängel angeben. Die gemeldeten Probleme wie Schlaglöcher oder defekte Beleuchtung werden in die administrative Maschinerie eingespeist. Man braucht nicht viel Phantasie, um sich einen Nutzer vorzustellen, der zwei Stunden nach seinem Eintrag bereits nervös nach dem Reparaturtrupp für die kaputte Straßenlaterne Ausschau hält“, so der Ausblick von Lobo.


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