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Mythos Kundenbegeisterung als CX-Erfolgsstrategie

Ist Kundenbegeisterung ein Mythos? Für die Mehrheit der Unternehmen ist vor allem eine reibungslose Customer Journey die zu bevorzugende CX-Strategie.
Peter Pirner | 21.03.2022
Mythos Kundenbegeisterung als CX Erfolgsstrategie © freepik / oatawa
 

Wer hat sich das eigentlich ausgedacht? Oft liest man, dass man als Unternehmen Kunden begeistern muss, um sich langfristig gegen den Wettbewerb durchzusetzen. Ein wahrhaft kundenfokusiertes Unternehmen stellt deshalb nicht einfach zufrieden, nein - es macht die Kundenbegeisterung zur alles beherrschenden Maxime seines Handelns. Andernfalls kann man den Laden gleich zusperren. Welche Kunden sollten denn noch vorbeischauen, wo die Begeisterung doch an jeder Ecke auf sie wartet.

Wenn man die Wahl hat zwischen einem soliden, sehr guten Rotwein, mit dem man immer genusstechnisch sehr zufrieden war, und einem Rotwein, der einen echt begeistert, würde man wohl beim nächsten mal letzteren trinken (wenn er ins Budget passt). Man würde auch den Wein wechseln, wenn der neue Rotwein nur „wirklich exzellent“, „ganz besonders lecker“ oder einfach ein bisschen besser als der gewohnte ist. Das Bessere ist eben der Feind des Guten. Das gilt definitiv so auch im Wirtschaftsleben. So gesehen ist Begeisterung besser als Zufriedenheit, aber stimmt deshalb auch der Strategieansatz?

Wie entsteht eigentlich Zufriedenheit beim Menschen?

In der Kundenzufriedenheitsforschung hat sich das Expectation Confirmation / Disconfirmation Paradigma als vorherrschendes Erklärungsmuster seit Jahrzehnten bewährt. Die Theorie geht zurück auf den 2016 verstorbenen Richard L. Oliver, der sich in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts intensiv mit psychologischen Grundlagen des Konsumentenverhaltens beschäftigte.

Das Modell ist simpel und einleuchtend. Der Konsument gleicht seine Erfahrung mit einem Produkt mit seinen Erwartung ab. Wird diese nicht getroffen, ist er unzufrieden, wird diese erfüllt ist er zufrieden und wird sie übererfüllt ist er besonders zufrieden, was besser ist als einfach nur zufrieden. So weit, so gut

Weiterentwickelt wurde dieses Konzept der Zufriedenheit sehr prominent dann durch das Kano Modell. Noriaki Kano greift dabei 1984 auf die durch den Arbeitspsychologen Herzberg entwickelte zwei Faktoren Theorie der Arbeitszufriedenheit zurück.  Kano argumentiert, dass neben den Leistungsfaktoren, die unmittelbar zu Zufriedenheit oder Unzufriedenheit führen, je nachdem wie sie ausgeführt werden, sogenannte Begeisterungsfaktoren besonders wichtig sind. Mit positiven Erfahrungen bei diesen Elementen rechnet der Kunde nicht, deshalb ist er so begeistert, wenn er sie erlebt. Wenn diese nicht erfüllt sind, macht es auch nichts – hatte ja eh keiner auf der Liste.

Das Kano Modell erfreut sich seitdem großer Beliebtheit im Marketing und CX Management. Wenn gar nichts mehr bei der Kundenloyalität vorangeht, müsse man halt endlich echte „Begeisterungsfaktoren“ schaffen. Schau doch bloß mal bei Apple, denen gelingt das doch auch.

So richtig empirisch nachweisen will man das allerdings nicht. Das empirische Vorgehen von Kano wurde in der Praxis ohnehin sehr selten lupenrein umgesetzt, das ist nämlich gar nicht so unaufwändig. Und in den Fällen, die ich selbst für Kunden durchgeführt hatte, hätten wir uns eindeutigere und vor allem mehr Begeisterungsfaktoren erwartet. So gesehen war das Kano Modell im Praxischeck ein Rohrkrepierer. Was blieb, ist im Alltag die faszinierende Idee der Kundenbegeisterung als Ausrede und inspirierender Problemlöser.

Ein logischer Zweifel an der Sinnhaftigkeit der Ausrichtung an Kundenbegeisterung seit vielen Jahren ist, dass diese auf positiver Überraschung beruht. Der Kunde sagt: „wow, also das hätte ich jetzt wirklich nicht erwartet!“ Eine Kundenstrategie kann aber nur zum Erfolg führen, wenn sie in der Organisation skalierbar ist, also systematisch und von allen angewendet wird.

Wie soll man Überraschung systematisch organisieren?

Überraschung funktioniert schließlich immer nur einmal beim jeweiligen Kunden. Danach wird eine positiv überraschende Kundenerfahrung vielleicht noch keine Gewohnheit, aber neu ist sie auch nicht. Begeisterung entwickelt sich im besten Fall zu einer hohen Zufriedenheit. Wie der Grappa beim Italiener zum Abschluss des Menüs. Blöd nur, hat man einmal mit dem Grappa als Wirt angefangen, muss man eigentlich weitermachen, sonst wird der fehlende Grappa zur Enttäuschung. Will man neue Begeisterungsstürme auslösen, lässt man die Grappaflasche schon mal auf dem Tisch stehen und der Gast darf gratis nachschenken. Und wie toppt man das dann? Mit einer zusätzlich geschenkten Nachspeise … dann einer Vorspeise ... schließlich einem Gratisessen? Eines ist sicher, Begeisterung zu erzeugen kostet in den meisten Fällen Geld, auf jeden Fall langfristig.

2010 wurde dann dem Hype um Kundenbegeisterung Kanoscher Prägung mit einem denkwürdigen Artikel von Matthew Dixon, Karen Freeman und Nicholas Toman in der Harvard Business Review Einhalt geboten. Der Titel? „Stop Trying to Delight your Customers“.

Am Beispiel des Kundenservice belegen sie, dass allein der Versuch, Begeisterung zu schaffen, unendlich viel Geld kostet und am Ende gar nichts bringt, weil die Kunden trotzdem nicht wesentlich loyaler sind. Außerdem nehmen die meisten das großherzige Begeisterungsangebot gar nicht mal als solches wahr.

Kunden merken aber sehr wohl, wenn die Lösung ihres Problems extrem aufwändig ist, die Prozesse nicht rund laufen und man hundertmal sein Anliegen wiederholen muss. Dann wandern sie ab. Und wenn man das vermeiden will, muss man sich eher einfachen Problemlösungen für den Kunden widmen. Das kann man systematisch tun und kontinuierlich verbessern. Schafft vielleicht keine Begeisterung, verhindert aber Frustration und Abwanderung von Kunden. Und rechnet sich auf jeden Fall schneller als die flüchtigen Begeisterungsfaktoren.

Der Customer Effort Score

Ihre Kennzahl haben sie dann auch noch gleich eingeführt: den Customer Effort Score.

Der Customer Effort Score ist heute, neben dem NPS und der Kundenzufriedenheit, einer der zentralen und etabliertern KPI im Customer Experience Management.

Trotzdem erweist sich die Kundenbegeisterung als bemerkenswert untote Strategieoption. Die Alternativstrategie „möglichst reibungslose Problemlösung auf Basis optimierter Prozesse“ ist einfach deutlich weniger sexy. Genaugenommen riecht sie sehr nach Arbeit und irgendwie freudlos. Dann doch lieber begeistern … oder zumindest emotional packen. Denn mit positiven Emotionen bleiben Erfahrungen besser im Gedächtnis. Es muss ja nicht gleich Begeisterung sein. An mit negativen Emotionen belegte Erlebnisse erinnert man sich übrigens auch sehr gut, aber vergraulen wollen wir Kunden ja normalerweise nicht.

In diesem Jahr gingen nun vier renommierte Vertreter der empirischen Kundenforschung dem ewigen Hin und Her (perfekter Prozess vs. Memorable Experience dank Emotion) auf den Grund. „What’s the Right Customer Experience for Your Brand?“ lautet der Artikel von Luke William, Alexander Buoye, Tim Keiningham und Lersan Aksoy in der Harvard Business Review. Die Autoren fanden heraus, dass beide Strategien funktionieren können – abhängig von der Industrie. Was allerdings nicht so gut klappt ist, wenn man beides gleichzeitig versucht.

Sie unterscheiden als Ergebnis ihrer empirischen Untersuchung in den USA 4 Typen. Mass Market Brands wie McDonald’s oder Amazon, haben einen hohen Marktanteil im Massengeschäft. Je besser diese Marken ihre Prozesse ständig weiteroptimieren, desto erfolgreicher ist die Marke. Memorable Experiences sind bestenfalls Beifang. Convenience Brands wie Ryanair, haben in einem Massenmarkt niedrigere Marktanteile, sie konkurrieren über das Preis-/Leistungsverhältnis und haben schon genug damit zu tun, ihre Prozesse im Griff und die Verärgerung gering zu halten. Ganz anders Boutique Brands, die in Nischenmärkten mit niedrigem Marktanteil besonders über ihre minutiös durchgeplanten Customer Journeys die Kunden eintauchen lassen in besondere Erlebniswelten.  Und dann gibt es noch sowas wie „Einhörner“, die Gravity Brands. Diesen gelingt es trotz hohen Marktanteils weiter zu wachsen und das mit einer überwiegend emotionalen CX Strategie. Lego, Ikea und Disney Resorts nennen die Autoren als Beispiele, betonen aber gleichzeitig, dass Gravity Brands so selten wie ein Sechser im Lotto sind – also sinngemäß. Und diese Marken investieren jede Menge Geld, vor allem auch in ihr Personal für Recruiting, Training und bestimmt auch Bezahlung.

Customer Journey als bevorzugte CX Strategie

Es bleibt also dabei: für die Mehrheit der Unternehmen ist vor allem eine reibungslose Customer Journey die zu bevorzugende CX Strategie. Ohne viel Klimbim, dafür verlässlich gut und effizient. Nischenanbieter können sich den Luxus des besonderen Erlebnisses gönnen, wenn Kunden nur gelegentlich vorbeikommen. Dann kann man auch leichter Erwartungen übererfüllen, weil die liebe Konkurrenz, z.B. der Marktführer im Massenmarkt, ihre Kunden ja nicht übermäßig verwöhnt hat.

Begeisterung als vermeintlich heiliger Gral des Journey Designs ist teuer, funktioniert in den meisten Branchen eh nicht und sollte einen nicht von der eigentlichen Arbeit abhalten: effiziente reibungslose Problemlösungen für Kunden zu schaffen. Wenn sich Kunden dann noch dran erinnern, umso besser.