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Social Media: Mikrokosmos, Profilierungswerkzeug oder Zukunft der Kommunikation?

Christoph Salzig | 16.09.2009
Manch­mal braucht es schon mal einen Tag, um sich abseits des Arbeits­all­tags so seine Gedan­ken zu machen. Manch­mal wird aus die­sem Tag auch eine Woche oder mehr. Eigent­lich unvor­stell­bar in Zei­ten der Echt­zeit­kom­mu­ni­ka­tion á la Twit­ter. Etwas mehr als 24 Stun­den sind seit dem Ende des letz­ten Medi­en­mitt­wochs in Frank­furt ver­gan­gen — einer ech­ten Insti­tu­tion der Main­me­tro­pole. Ins­be­son­dere dann, wenn die Online­the­men aufs Tapet kom­men, wird hier in der Regel kon­tro­vers dis­ku­tiert. So auch am ver­gan­ge­nen Mitt­woch, als Initia­tor Tobias Kirch­ho­fer (Geschäfts­füh­rer der Inter­net­agen­tur Blue­Mars) zum Thema “Du kommst hier net rein! Die Spiel­re­geln der Social Net­works” gela­den hatte. Ohne direkt vor Ort zu sein, lie­ßen den geneig­ten Web-Beobachter doch Livestream und Twit­ter Zeuge wer­den, wie das Motto auf­grund des Andrangs für die spä­te­ren Gäste bei­nahe zur bit­te­ren Wahr­heit gewor­den wäre. Die große Reso­nanz belegt ein wei­te­res Mal das über­ra­gende Inter­esse an der “Terra Inco­gnita” Social Media.
Tiefe Grä­ben durch­zie­hen den Social Media Parcours

Nach der gewohnt unter­halt­sa­men Ein­füh­rung durch Community-Experte Prof. Dr. Ralf Scheng­ber dürf­ten die Gäste — trotz ihrer zwei­fels­ohne gro­ßen Hete­ro­ge­ni­tät — eini­ger­ma­ßen auf “Augen­höhe” zum Thema gewe­sen sein. Der “Par­cours der Social Media Hin­der­nisse” war für alle nach­voll­zieh­bar, ob das auch für den auf der Lein­wand ein­ge­blen­de­ten Twit­ter­stream galt, der alle Tweets zum Thema zum Teil im Sekun­den­takt ein­fing, darf zu Recht bezwei­felt wer­den. Die Reak­tio­nen vor Ort, die auf­ge­wor­fe­nen Fra­gen mit­samt der gelie­fer­ten Ant­wor­ten und die Kom­men­tare aus Twit­ter­land zei­gen indes, dass es nicht nur diver­gente Wahr­neh­mun­gen, son­dern – über­spitzt gesagt – fast schon so etwas wie eine digi­tale Spal­tung in Sachen Social Media gibt. Eine ver­zweigte Fur­che zieht sich durch die Gesell­schaft und auch durch die Nut­zer inter­ak­ti­ver Medien (Web und Mobile). Letzt­lich hat das bereits die Debatte um die miß­glückte Social Media Kam­pa­gne (“Es ist Deine Zeit!”) von Vod­a­fone (in der Blo­go­sphäre in der Folge gern #vod­afail beti­telt) gezeigt. Der Medi­en­mitt­woch, bei dem auch Vodafone-Sprecher Kuzey Alex­an­der Ese­ner auf dem Podium saß, hat das ein wei­te­res Mal verdeutlicht.
Es ver­här­ten sich die Fronten

Ich habe mich mit Kom­men­ta­ren zu der Vodafone-Geschichte lange zurück­ge­hal­ten. Ange­sichts der Viel­zahl von State­ments und Blog­bei­trä­gen, hat das sicher nie­mand ver­misst. Der Mitt­woch­abend hat auch für mich die ganze Geschichte noch ein­mal in ein etwas ande­res Licht gerückt, nicht zuletzt weil ich an der Zusam­men­stel­lung des The­mas und der Runde nicht ganz unbe­tei­ligt war und so im Vor­feld zahl­rei­che Gesprä­che mit den Betei­lig­ten geführt habe. Noch ein­mal zur Aus­gangs­si­tua­tion: Da hat sich ein Unter­neh­men, das mir in der Ver­gan­gen­heit nicht gerade durch eine unkom­pli­zierte Unter­neh­mens­kom­mu­ni­ka­tion auf­ge­fal­len ist, zu einem unge­wöhn­li­chen Schritt ent­schlos­sen. Ein Teil des für die Kam­pa­gne zur Inte­gra­tion des Festnetz-Geschäfts von Arcor bereit­ge­stell­ten Bud­gets fließt in Social Media Maß­nah­men. Füh­rende Köpfe der Blog­ger­szene, inklu­sive des Blog­ver­mark­ters Adna­tion wer­den enga­giert, ein eige­ner Blog auf­ge­setzt und das Ganze direkt in die von klas­si­scher PR-Hand vor­be­rei­tete Pres­se­kon­fe­renz integriert.
Olaf Kolbrück im Gespräch mit Kuzey Alexander Esener

Olaf Kol­brück im Gespräch mit Kuzey Alex­an­der Esener

Im Grunde ein wirk­lich muti­ger Schritt, denn die Unwäg­bar­kei­ten dürf­ten allen bekannt gewe­sen sein. Umso erstaun­li­cher, dass bereits in einer sehr frü­hen Zeit­punkt ein ech­ter Kar­di­nal­feh­ler began­gen wurde. Es wurde schlicht die erste Regel des kom­mer­zi­el­len Social Media Enga­ge­ments über­se­hen. Oder ver­ges­sen? Oder unter­be­wer­tet? Wie auch immer: Trotz Beglei­tung pro­mi­nen­ter Ver­tre­ter der Zunft (Sascha Lobo als Bera­ter, Nico Lumma als Social Media Stra­te­gist der betreu­en­den Agen­tur Scholz & Fri­ends) geriet das rich­tige Zuhö­ren irgend­wie aus dem Blick. Wie sonst kann es sein, dass noch wäh­rend der Pres­se­kon­fe­renz das ganze lang­sam aber ste­tig aus dem Ruder lief? Nicht zuletzt, weil es sich Vod­a­fone mit der Betei­li­gung an der Inter­net­sper­rung durch Ursula von der Leyen (alias #zen­sur­sula) bei vie­len Blog­gern gründ­lich ver­scherzt hatte.
Ein Sturm im Was­ser­glas mit Lerneffekt

Aber: Man zeigte sich lern­fä­hig. Nur kurze Zeit spä­ter bewies Vod­a­fone, dass man bereit ist, mit Kri­tik offen umzu­ge­hen und zeigte sich ange­sichts der “Yodafone”-Anzeige sogar humor­voll. Für die Demis­sion der “Twit­ter­mom” aka @schnutinger aka Ute Hamel­mann galt das jedoch nicht. Der Rück­zug, den die Online-Kabarettistin und Web-Cartoonistin nur einen Tag nach ihrem ers­ten und ein­zi­gen Blog­bei­trag für Vod­a­fone bekannt gege­ben hatte, blieb und bleibt bis heute im Grunde unkom­men­tiert. Genauso unkom­men­tiert ließ Vod­a­fone den wer­be­ri­schen Part ihres Blog­posts online gehen — ein kla­res Ver­säum­nis. Den­noch: Genau sol­che Feh­ler geben Unter­neh­men ein mensch­li­ches Gesicht oder anders for­mu­liert: Sie ver­lei­hen ihm Authen­ti­zi­tät. So wie sie von selbst­er­nann­ten Social Media Evan­ge­lis­ten ein­ge­for­dert wird. Doch was pas­sierte? Ver­ständ­nis? Nach­sicht? Nein, natür­lich nicht. Wie in vie­len ande­ren Fäl­len zuvor schwang die Szene der Social Media Addicts die Moral­keule und senkte das Fall­beil. Auch Wochen nach dem Vor­fall nutz­ten nicht wenige den live ein­ge­blen­de­ten Twit­ter­stream beim Medi­en­mitt­woch zum “Bas­hen” und “Dis­sen” des zur “Beichte” ange­tre­te­nen Vodafone-Sprechers. Was aber bitte erwar­tet das Web-Volk jen­seits des Ein­ge­ständ­nis­ses, dass man Reak­tio­nen falsch ein­ge­schätzt habe? Selbst­ver­ständ­lich zeigt sich Herr Ese­ner bei sol­chen Anläs­sen loyal zu sei­nem Arbeit­ge­ber. Es wäre gut, wenn dem Rat­schlag von Ralf Scheng­ber (“Erst duschen, dann reden!”) auch die Dampf­plau­de­rer des Social Media “Mikro­kos­mos” (O-Ton Ese­ner) ab und zu Folge leis­ten wür­den. Letzt­lich – und das glaube ich bereit­wil­lig – haben sich die Irrun­gen und Wir­run­gen Vod­a­fo­nes in der Social Web World in den Filia­len nicht aus­ge­wirkt –sprich: Sie waren nicht umsatz­re­le­vant. Mög­li­cher­weise auch des­halb, weil die Tarif­po­li­tik für die “Gene­ra­tion Upload” von vorn­her­ein keine wirk­li­che Wahl­al­ter­na­tive dar­stellt. Ein Sturm im Was­ser­glas, gleich­wohl mit Lern­ef­fek­ten für alle Unter­neh­men, die ähnli­che Akti­vi­tä­ten und Maß­nah­men planen.
Zwi­schen Medi­en­rau­schen und Twitterkakophonie

Doch zurück zur “digi­ta­len Spal­tung”. Nicht nur die­je­ni­gen, die schon ein­mal beim Medi­en­mitt­woch dabei waren, wer­den schon anhand der Bil­der­ga­le­rie erken­nen, dass unter den Gäs­ten nicht nur Nerds und Web-Aficionados zu fin­den sind.

Im Gegen­teil: Denn hier geht um die kon­ti­nu­ier­li­che Infor­ma­tion und den Gedan­ken­aus­tausch zu allen mög­li­chen Medi­en­the­men. Da kann es also durch­aus pas­sie­ren, dass ein Inter­net­un­ter­neh­mer an einem sol­chen Abend auch schon mal “nix lernt”, außer viel­leicht, dass viele noch nicht “reif” sind für das Thema Social Media (und viel­leicht auch nie wer­den). Da passt die Erwar­tungs­hal­tung ganz offen­sicht­lich nicht zum Anlass. Ähnli­ches gilt für die über­spann­ten Reak­tio­nen auf den nicht nur ver­bes­se­rungs­wür­di­gen son­dern durch­aus auch zu wür­di­gen­den Ver­such eines Unter­neh­mens mit welt­weit mehr als 60.000 Mit­ar­bei­tern, sich in die Sozia­len Netz­werke hereinzutasten.

Ein wenig mehr Auf­mun­te­rung und zag­haf­tes Lob wäre lang­fris­tig sicher ziel­füh­ren­der, statt den Ver­bal­knüp­pel zu zücken. Denn das würde auch andere Unter­neh­men ermun­tern, Geld von ihren völ­lig über­zo­ge­nen Media­bud­gets für TV-Spots und Anzei­gen zu Guns­ten von Social Media Akti­vi­tä­ten abzu­zie­hen, um wirk­lich nach­hal­tig und auf Augen­höhe kom­mu­ni­zie­ren zu kön­nen. Ver­nich­tende und unaus­ge­wo­gene Kom­men­tare eini­ger weni­ger, die sich ohne Rück­sicht auf Ver­luste zwi­schen Medi­en­rau­schen und Twit­ter­ka­ko­pho­nie zu pro­fi­lie­ren, sind dabei in jedem Fall stö­rend und kontraproduktiv.

[Erschienen in blog.onetoone.de, 09/09]